Herr Caine, 2013 ist ein doppeltes Jubiläumsjahr: der 200. Geburtstag sowohl von Richard Wagner als auch von Giuseppe Verdi. Sie haben Musik beider Komponisten interpretiert.
Ich habe schon als Teenager die Klaviernoten von Wagners »Tristan und Isolde« in die Finger bekommen. Ich dachte damals: Wow, was sind das für herrliche Klänge! So fing alles an. Und weil ich als Musiker von der Musikgeschichte lerne, habe ich auch viel von Richard Wagner gelernt.
Und Wagners Schattenseite? Sein Judenhass?
Das ist eine völlig andere Sache als seine Musik. Oft sind geniale Musiker schreckliche Menschen. Gut also, dass es die Diskussion um Wagner gibt. Aber gut auch, dass es seine Musik gibt. Ich kann nicht sagen: Diese Noten sind Nazi-Noten.
Aber er war ein Vordenker des Antisemitismus.
Wagner wurde nicht als Antisemit geboren. Als junger Mann ging er nach Paris und verehrte den damals sehr erfolgreichen Komponisten Giacomo Meyerbeer, einen Juden, der ursprünglich aus Berlin kam. Vielleicht gründet Wagners Antisemitismus in dem Frust, nicht ebenso erfolgreich gewesen zu sein wie Meyerbeer. Also fing er an, dieselben antisemitischen Klischees zu bedienen wie seine Zeitgenossen. Die Juden seien heimatlose Parasiten und könnten deshalb keine eigenständige Kunst entwickeln und derlei Quatsch.
War das nicht mehr als nur Quatsch? Immerhin haben die Nazis Wagner auch in Auschwitz gespielt.
Auch wenn seine Musik dort gespielt wurde, so hat Wagner doch Auschwitz nicht errichtet. Ich bin in Philadelphia groß geworden, in einem Haushalt, in dem Hebräisch gesprochen wurde. In meiner Umgebung gab es viele Menschen mit KZ-Nummern auf dem Arm, die überhaupt kein Deutsch hören wollten und erst recht nicht Wagner. Das hat sich ein wenig geändert, als ich als Teenager nach Israel auf eine Jeschiwa ging. Die meisten Menschen dort hatten ganz andere Probleme als Wagner, wenngleich er dort bis heute nicht gespielt wird.
Sie haben 1997 Wagner-Ouvertüren eingespielt – mit einem eher ungewöhnlichen Arrangement.
Mein Label hatte die Idee eines Kaffeehaus-Ensembles, wie es schon zu der Zeit existierte, als Wagner in Venedig lebte. Eines dieser Kaffeehäuser auf der Piazza San Marco, das es heute noch gibt, heißt Gran Café Quadri. Wagner hat seine eigene Musik damals in diesem Café gehört, gespielt von einem Kaffeehaus-Orchester. Heutzutage spielen diese Ensembles einfach alles, von Freddie Mercury bis Puccini, aber die Instrumentierung ist stets die gleiche geblieben: vier Streicher, ein Akkordeonspieler und ein Pianist.
Mit diesem Kaffeehaus-Orchester wollten Sie das Album ursprünglich einspielen. Das hat nicht geklappt. Warum nicht?
Als ich meine Arrangements vorlegte, wollten die Musiker das nicht spielen. Nicht, weil ich auf all den Wagner-Bombast verzichtet hatte, sondern weil meine Arrangements auf mehr als zwei Notenblättern verteilt waren, und sie waren es einfach nicht gewohnt, beim Spielen umzublättern. Also habe ich Freunde aus New York eingeladen, dort zu spielen.
Ausgerechnet jüdische Musiker ...
Mark Feldman, Joyce Hammann und Erik Friedlander sind jüdisch, Drew Gress und Dominic Cortese sind es nicht.
Probleme wie mit Wagner hat man mit Verdi nicht. Wann und wie haben Sie ihn für sich entdeckt?
Entdeckt habe ich ihn, weil ich Verdi-Sänger am Klavier begleitet habe. Spätestens als ich »Otello« und »Falstaff« gehört habe, seine beiden letzten Opern, war ich begeistert. Mit dem Rhythm-and-Blues-Sänger Bunny Sigler aus Philadelphia habe ich dann die Idee entwickelt, das »Othello Syndrome« zu machen, eine von Verdis Werk inspirierte Jazz-Adaption. Es geht darin um pathologische Eifersucht, die den psychiatrischen Fachbegriff »Othello-Syndrom« trägt. Die Uraufführung war 2003 bei der Biennale in Venedig.
Wäre aus jüdischer Sicht statt »Otello« nicht »Nabucco« mit dem berühmten Chor der Hebräer passender gewesen?
In »Nabucco« geht es definitiv nicht um Jüdischkeit. Auch nicht bei dem von Ihnen angesprochenen Chor »Va pensiero«. Der ist inzwischen eher eine Art inoffizielle Nationalhymne Italiens.
Wenigstens Ihre aktuelle CD aus diesem Jahr ist jüdisch. Da spielen Sie George Gershwins »Rhapsody in Blue«.
Mit Gershwin bin ich groß geworden, so wie mit den anderen Broadway-Komponisten der Tin Pan Alley. Und die meisten von ihnen waren – anders als Verdi und Wagner – nun mal jüdisch. Ihre Musik ist ein Teil von mir.