Endlösung? Tatsächlich »Endlösung«? Nun ja, hier stehe ich als ein Beispiel dafür, dass sie doch nicht vollkommen gelungen ist. Doch die Ermordung von zwei Dritteln der europäischen Juden, das ist schon eine große Leistung.
Wenn aber Adolf Hitler im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg nur ein trotzig aufstampfender Loser gewesen ist, dann können wir ihn, was seinen Traum von der Vernichtung der Juden betrifft, fast schon als Sieger betrachten. Abgesehen von meinen Cousins, meiner älteren Schwester und mir ist es ihm gelungen, alle meine Schulkameraden zusammen mit meinen Cousinen durch Gas und Feuer verschwinden zu lassen.
All dies geschah enorm nüchtern, alltäglich, gleichmütig, banal. Als Folge davon kam in der Kleinstadt meiner Kindheit das durchschnittliche europäische Verhältnis zur Geltung: Von 14.000 Einwohnern waren 1.000 Juden. 670 wurden umgebracht, 330 kehrten zurück, und sie gingen später in mehreren Phasen selbst weg. So dass es dort heute keinen einzigen mehr gibt.
täter Ein nach Auschwitz deportierter, doch am Leben gebliebener einstiger Häftling, ein heimgekehrter 17-Jähriger, hatte beim Anblick des aus dem Birkenauer Krematorium aufsteigenden dichten, rußigen Rauches das Gefühl, dass ihn aus den Flammen der Teufel angrinse. In der Holocaustliteratur kommen Vergleiche mit der Hölle häufig vor.
Doch bei der tatsächlichen Zusammenkunft hochrangiger, diplomierter Herren am Wannsee, wo die Idee praktische Gestalt annahm, ging es fachgerecht und ruhig zu: »Sehr ruhig, sehr freundlich, sehr höflich und sehr artig, sehr nett, und es werden nicht viele Worte gemacht. Es dauert auch nicht lange. Es wird dann ein Cognac gereicht durch die Ordonanzen, und dann ist die Sache eben vorbei«, wie sich ein Teilnehmer, Adolf Eichmann, erinnert.
Auch die Vorbereitungen in Ungarn gingen verhältnismäßig glatt und ruhig vonstatten, schritten immer nur eine Stufe weiter voran. Wenn es nun schon eine Juden- frage gab, dann musste man sich um deren Lösung bemühen, noch dazu unter gesetzlichen Rahmenbedingungen. Im Frühjahr 1944 war die Entwicklung, die zur Endlösung, zu den Vernichtungslagern führte, alltäglich und fast normal geworden.
Im ungarischen Parlament wurde das Thema von den Abgeordneten ausgiebig debattiert. Der katholische Fürstprimas und auch der Vorsitzende der reformierten Bischofskonferenz empfahlen die Vorlage der Judengesetze zur Annahme. Dem ersten Judengesetz folgte das zweite, das dritte, und dann prasselte in rasender Geschwindigkeit Verordnung auf Verordnung hernieder, wurde der Rückstand zum deutschen Vorbild wettgemacht.
opfer Am 20. März 1944, einem Montag, ging ich wie gewöhnlich zur Schule. Die deutschen Tiger-Panzer auf dem Hauptplatz unserer kleinen Stadt und die darauf sitzenden, in grauen Uniformen steckenden, Zigaretten rauchenden Soldaten waren nicht zu übersehen.
Sie sahen sich um, langweilten sich. Auf der Hauptstraße marschierten in dichter Aufeinanderfolge deutsche Soldaten in feldgrauen Uniformen auf und ab. Die ungarischen Soldaten bewegten sich etwas lockerer. Doch auf die Schmährede von stinkenden Juden verzichteten sie in ihren Gesängen nur selten. Ein Klassenkamerad meinte: »Jetzt steht ihr im Regen.« »Wer?«, fragte ich. »Na, ihr, ihr Hunde«, sagte er lachend und lief weg. Auf die Juden hatte er angespielt und sich nicht geirrt.
Am 15. Mai wurden meine Eltern von schwarz uniformierten Offizieren der Gestapo in Begleitung ungarischer Gendarmen, die einen schwarzen Hut mit herabhängenden schwarzen Hahnenfedern trugen, verhaftet. Sie wurden nach Österreich zur Zwangsarbeit deportiert. Wir Kinder wussten nichts von ihnen.
Wir hatten gehört, dass die Juden aus der Umgebung von Berettyóújfalu, unserer kleinen Stadt, schon vielerorts in Ghettos gesperrt und in überfüllten Viehwaggons ins Ausland transportiert worden waren. Ohne Vater und Mutter, allein auf uns gestellt, auch so konnten wir Kinder leben. Doch es schien ratsam, die Kleinstadt zu verlassen und nach Budapest zu gehen. Dort hatten uns Verwandte eingeladen.
Juden allerdings war die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel verboten. Um dennoch fortgehen zu können, bestach ich, ein Elfjähriger, durch Vermittlung eines rechtsgerichteten Anwalts mit Hilfe des von meinen Eltern gebliebenen und versteckten Geldes im Wert eines größeren Hauses die zuständigen Behörden. Als mich mein Schuldirektor nach der Übergabe der erforderlichen Papiere aufforderte, auch weiterhin ein braver ungarischer Junge zu bleiben, nickte ich.
zuschauer Wie wir später erfuhren, waren die in Berettyóújfalu zurückgebliebenen Juden am nächsten Tag abgeholt, von Újfalu in das nahegelegene Ghetto von Großwardein abtransportiert worden und von dort eine Woche später nach Auschwitz.
Dort wurden Kinder unter 14 Jahren, so auch Vera, vergast und verbrannt. In Begleitung von Gendarmen gingen sie die Straße entlang, plagten sich mit ihrem Gepäck ab, wurden vom Gehweg aus beobachtet. Manche grüßten sogar, manch einer aber rief den Davonziehenden Beleidigungen hinterher, die meisten aber hüllten sich in Schweigen.
György Konrád wurde 1933 in Debrecen geboren und überlebte die Schoa als Kind in Budapest. In seinen Romanen »Heimkehr« und »Glück« hat er diese Ereignisse geschildert. Im realsozialistischen Ungarn zählte Konrád zu den führenden intellektuellen Dissidenten. 1990 war er Präsident des internationalen PEN, 1997 bis 2003 Präsident der Akademie der Künste in Berlin.
Der hier abgedruckte Text ist ein Auszug aus einem Vortrag, den György Konrád am Donnerstag, den 19. Januar, um 19 Uhr in der Akademie der Künste Berlin halten wird. Mit dem Vortrag eröffnet die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz in Berlin eine einwöchige Veranstaltungsreihe zum 70. Jahrestag der Konferenz.
www.ghwk.de