Fernsehen

»Das Schweigen«

Die preiswürdige Dokumentation des Bayerischen Rundfunk erinnert an die Opfer der Schoa - und sollte in Schulen und Bildungseinrichtungen ein fester Bestandteil des Lehrplans werden

von Maria Ossowski  16.10.2024 16:03 Uhr

Ilana Lewitans Vater, Robert Schmusch, hat bis zu seinem Tod nicht über die Vergangenheit gesprochen. Doch 2021 erhält die Tochter plötzlich eine E-Mail ... Foto: imago stock&people

Die preiswürdige Dokumentation des Bayerischen Rundfunk erinnert an die Opfer der Schoa - und sollte in Schulen und Bildungseinrichtungen ein fester Bestandteil des Lehrplans werden

von Maria Ossowski  16.10.2024 16:03 Uhr

Der Enkel eines SS-Obersturmbannführers begibt sich auf die Spuren seines Großvaters. Willy Schmidt hatte Gefangene in den Werkstätten des SS-Fuhrparks an der Warschauer Ghettomauer beaufsichtigt. Enkel Norman entdeckt in Gerichtsunterlagen, dass zwei jüdische Überlebende zu Protokoll gegeben hatten, Willi Schmidt hätte sie gerettet. Ja, er hätte sogar hundert Juden gerettet. Beide sind verstorben, aber die Tochter von Robert Schmusch, Ilana Lewitan: Norman findet sie, eine Malerin, 1961 geboren. 

Hier beginnt die sensible und klug erzählte Geschichte der Filmemacherin Andrea Roth. Sie begleitet nicht nur das erste Treffen des Täterenkels mit der Opfertochter, sie nimmt auch teil an beider Annäherung, an den Fragen und Ängsten, den Sehnsüchten, den Wünschen und einem Ende, das weitab allen Versöhnungskitsches und jeder Sentimentalität schlicht passt. 

»Das Schweigen« ist eine wahrhaftige, eine glaubwürdige und außergewöhnliche Dokumentation.

Ilanas künstlerisches Topos sind Wälder, in ihrem Atelier zeigt sie Norman ihre großformatigen Ölbilder. Wälder, von denen sie träumt. Wälder, von denen sie ahnt, dass ihr Vater sie kannte, sich in ihnen versteckte.

Wissen konnte sie es nicht, denn Robert hatte nie vom Ghetto und der Schoa erzählt. Er hat geschwiegen. Um des Seelenfriedens seiner Familie willen? Sicher. Um seiner eigenen Seele willen? Sicher auch.

Die Deutschen hatten seine Eltern in Treblinka ermordet. Nun will Ilana um alles in der Welt begreifen, welch erlittenes Leid ihren Vater umtrieb, sie möchte sich dem transgenerationellen persönlichen Trauma stellen, das bis in ihr künstlerisches Schaffen hineinreicht. 

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Auch Normans Großvater Willy, nach dem Krieg Polizeimeister, hat geschwiegen. Er war liebevoll, streng, ein guter Opa, erinnert sich Norman. Aus dem Krieg erzählte er nichts.

1941-1944, so erfährt Norman aus den Unterlagen verschiedener Prozesse, in denen sein Großvater als Zeuge auftrat, war dieser Obersturmbannführer in Warschau. Sein Chef: Dr. Ludwig Hahn, der 300.00 Warschauer Juden in Treblinka ermorden ließ.

Heinrich Klaustermeyer, einem fanatischen Judenhasser und Gestapo-Verbrecher, war Willy Schmidt ebenfalls zugeordnet. Wie konnte er in diesem Umfeld Juden retten? 

Bezeichnend: Ilana und Norman entfernen sich bleiben Fremde. Der Kontakt bricht ab.

Beide reisen mit dem Filmteam nach Warschau. Kein Haus im Ghetto existiert mehr, erstaunlicherweise aber eine alte Treppe aus jener Werkstatt, in der Robert Schmus Zwangsarbeit geleistet hatte, bewacht von Willy Schmidt. Die Wälder rund um Warschau erinnern an Ilanas Bilder. Ein altes Versteck existiert noch, ein Loch unter einem verfallenen Haus. 

In den Gerichtsprotokollen ist vermerkt, Willy Schmidts Arbeiter seien abgeholt worden, ein Erschießungskommando sollte sie ermorden. Sie standen bereits an einer Mauer in der Nähe des Ghettos.

Willy Schmidt soll mit dem Kommandeur gestritten haben, er brauche seine Arbeiter. Also seien die jüdischen Zwangsarbeiter wieder zurück gebracht worden in die LKWs, und einige hätten so überlebt.

Willy Schmidt hat diese Aussagen bestätigt. Auf die Frage des Richters in einem Prozess, ob er die Juden aus Mitleid gerettet hätte oder weil er sie als Arbeiter schätzte, antwortete der SS-Mann: »Beides«.

Norman will nicht verstehen, dass sein Großvater ein Teil, ein wichtiges Rädchen im mörderischen System war. 

Die Reise nach Warschau bringt Ilana und Norman ihren Fragen und Geschichten näher. Aber nähern sie sich an in ihren Hoffnungen? Gibt es eine wie auch immer geartete Versöhnung? Nein. Sie entfernen sich anschließend, sie bleiben Fremde, der Kontakt bricht ab.

Ilana ist enttäuscht. Norman will nicht verstehen, dass sein Großvater, mag er auch hin und wieder menschlich gehandelt haben, ein Teil, ein wichtiges Rädchen im mörderischen System war. 

Norman hätte gern erlebt, dass Ilana dankbar ist für die Menschlichkeit seines Großvaters, immerhin hatte Willy Schmidt ihm einmal das Leben gerettet.

Viele Fragen bleiben offen: Willy Schmidt wurde, angeblich, weil er zu freundlich zu Juden war, nach Minsk versetzt und erhielt dort einen Massenerschießungsbefehl. Hat er sich dem gebeugt? Wir wissen es nicht.

In den Prozessen als Zeuge hat Schmidt weder gegen Hahn noch gegen Klaustermeyer ausgesagt. Warum nicht? Weil die Nazis in den Sechzigern noch überall in Amt und Würden wirkten? Weil er seiner Familie diese Aussagen nicht zumuten wollte?

Er hat geschwiegen. So wie Robert Schmusch über all das Fürchterliche, das er durchlebt hatte.

»Das Schweigen« ist eine wahrhaftige, eine glaubwürdige und außergewöhnliche Dokumentation. Sie verzichtet auf schnelle Antworten, simple Bewertungen und tritt der Erwartung entgegen, hier könne etwas »aufgearbeitet« werden, was schlicht nicht aufzuarbeiten ist. Norman schließt mit seinem Großvater ab. Die Geschichte sei für ihn rund. Ilana hätte noch viele Fragen an ihren Vater, die sie nie mehr stellen kann.

Die letzten Zeitzeugen sterben, und mit ihnen geht die Erinnerung an all jene, die dem millionenfachen Morden nicht entkommen konnten. Die Dokumentation von Andrea Roth zeigt, wie eine Erinnerung lebendig bleiben kann.

Zudem beweist sie anhand der manchmal zu kurz eingeblendeten Protokolle, wie milde die Justiz mit den Mitgliedern einer verbrecherischen Organisation noch in den Sechzigern und Siebzigern umgegangen ist. 

«Das Schweigen« sollte in Schulen und Bildungseinrichtungen ein fester Bestandteil des Lehrplans werden. Der Film ist zudem, gerade wegen seiner Aufrichtigkeit und seines Mutes, Ambivalenz zuzumuten, in hohem Maße preiswürdig. 

Die Doku in der ARD-Mediathek findet sich hier.

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