Eigentlich müsste man sich bei Noah bedanken. Noah war sieben Jahre alt, als er seinen Opa bat, ihn »mehr über Juden und Hitler wissen« zu lassen. Dem Jungen wird sehr klar gewesen sein, wen er da um Aufklärung angefragt hatte. Genau den Richtigen nämlich. Und Michael Wolffsohn nahm die Herausforderung an, schrieb dieses Mal für ein sehr junges Publikum. Er tat das für seine Enkel, aber natürlich auch für alle anderen Kinder und Jugendlichen ab etwa acht, neun Jahren.
2017 war von dem Historiker Michael Wolffsohn, der bis 2012 als Professor an der Universität der Bundeswehr München gelehrt hat und dessen so eloquent wie selbstbewusst vorgetragenes Expertenwissen nach wie vor in den Medien gefragt ist, das Buch Deutschjüdische Glückskinder. Eine Weltgeschichte meiner Familie erschienen – eine, seine Familiengeschichte, die in Deutschland beginnt und dort auch wieder endet, in der die Familie der Mutter, die in Bamberg gelebt hatte, mit der des Vaters, die in Berlin zu Hause war, 1939 in Britisch-Palästina zusammentrifft. Was für ein Glück! 1943 heiraten Thea Saalheimer und Max Wolffsohn. 1947 kommt dann in Tel Aviv der kleine Michael zur Welt.
RÜCKGABE Seine Großeltern väterlicherseits, Karl und Recha Wolffsohn, gehen allerdings schon 1949 wieder nach Deutschland zurück, nach West-Berlin. Max, Thea und der kleine Sohn Michael folgen fünf Jahre später, auch weil der Großvater beim ihm zermürbenden Kampf um Rückgabe oder »Wiedergutmachung« Unterstützung braucht. Karl Wolffsohn hatte vor 1933 Großkinos besessen, auch die Reform-Siedlung »Gartenstadt Atlantic« in Berlin-Gesundbrunnen. Und dann, unter den Nationalsozialisten, war auf einmal alles weg, geraubt …
Die Sprache erinnert bisweilen an Erich Kästner.
Auf Rückgabe oder »Entschädigungs«-Zahlungen warteten die Wolffsohns nach dem Krieg zunächst einmal vergebens. Die Familie prozessierte weiter und weiter, bis sie dann endlich 1962 die Gartenstadt-Siedlung zurückbekam. Karl Wolffsohn war schon fünf Jahre zuvor gestorben.
Entlang der dichten Familienchronologie erzählt Wolffsohn jetzt also für Kinder und Jugendliche. Das Buch trägt den Titel Wir waren Glückskinder – trotz allem. Eine deutschjüdische Familiengeschichte, und Wolffsohn schaltet ohne Schwierigkeiten auf einen Kinderbuchton um. Es ist ein plauderiger, in der Art einer beinahe vergangenen Jugendbuchgeneration. In seiner Direktheit und Schnoddrigkeit (bei Redewendungen wie »bei dir piept’s wohl« oder »interessiert nicht die Bohne« werden die Kinder aufhorchen) erinnert er etwas an den Erich-Kästner-Sound, baut Distanzen ab und sagt dann doch, wo’s langgeht.
PÄDAGOGISCH Wolffsohns Eltern werden im Buch zunächst wieder zu Kindern, werden zu dem Mädchen Thea und dem Jungen Max. Man nimmt deren Perspektive ein. Es werden Erlebnisse herausgegriffen, die das Kindsein wie auch dessen Zeit beleuchten.
Denn Wolffsohn lehrt ja auch. Zum Beispiel über historische Ereignisse, über die Nazis, über das Judentum, über die Schoa, über Israel, über Israel und Deutschland, über das, was Antisemitismus ist und dass es den noch immer gibt.
Er moralisiert, im besten Sinne – »Menschlichkeit und Freundlichkeit sind keine Frage des Geldes oder der Stellung, sondern der Einstellung« –, und holt sich die Leserschaft mit ins Boot: »Sie (die Antisemiten) denken eben nicht so anständig und menschlich wie du und deine Familie.« Dass er, um alles unterzubringen, manchmal den »Wissensstoff« in einzelne Zitate zwingt, schafft bisweilen einen konstruierten, sehr pädagogischen Ton.
ANEKDOTEN Am schönsten sind die Stellen, aus denen sich heraushören lässt, dass sie zum Anekdotenschatz der Familie gehören (so landete zum Beispiel einmal ein Schulzeugnis im Yarkon-Fluss und Gurkengeschnetzeltes in einem Gesicht). Wunderbar sind auch die Fotos. Je nach Standpunkt mag die Frage nach der Sprache-Inhalt-Schere überzeugen oder irritieren: Die Sprachführung, auch in ihrer Redundanz, ist herrlich kindgerecht, der Inhalt oft alles andere als leicht. Wolffsohn macht keinen Bogen um Fakten, die die Brutalität beim Namen nennen, aber er gibt eben auch Heiterkeit ihren Platz.
Wolffsohns Eltern werden in dem Buch wieder zu Kindern.
Manchmal ist das krass, so krass wie die plötzliche Frage, »die ihr für euch selbst beantworten solltet«: »Darf man, ja, muss man manchmal töten, um das Morden zu beenden?« Wolffsohn traut seiner Leserschaft etwas zu und führt sie doch eng.
Und er gibt seinem jungen Publikum einen ersten Eindruck davon, was es heißt, beim Schreiben exakt, korrekt, wissenschaftlich zu sein (samt Fußnoten). Aber klar ist auch: Ein Kinderbuch entlässt mit einem zuversichtlichen Gedanken. Und so heißt es (fast am Ende) des »Trotz allem«-Buches: »Wir alle waren und sind Glückskinder.«
Michael Wolffsohn: »Wir waren Glückskinder – trotz allem. Eine deutschjüdische Familiengeschichte«. dtv junior, München 2021, 240 S., 14,95 €