Ein Familientreffen auf Gran Canaria. Was könnte daran so dramatisch sein? Schließlich lockt der Strand, die Wärme auch. Für Lou, die eigentlich Ludmilla heißt, sind das jedoch keine Argumente. Sie ahnt bereits, dass die Einladung zum 90. Geburtstag ihrer Großtante nichts Verheißungsvolles bedeuten kann.
Doch Lou, die man am liebsten immer fragen würde: »Weshalb machst du es denn?«, lässt sich von ihrer Mutter überreden mitzufahren und nimmt die bevorstehende Reise wenigstens für ihre Tochter als pragmatische Abwechslung aus ihrem Berliner Alltag in Kauf. »Was kann an einer Woche dort so schlimm sein?«, fragt sich Lou, während sie nach günstigen Flügen im Internet sucht.
Die Patina des in die Jahre gekommenen, mediterran anmutenden Hotelkomplexes macht das Grundgefühl dieser jungen Frau, die in ihrem Alltag zwischen »Wer bin ich?«, »Was sollte ich?« und »Was erwartet ihr von mir?« oszilliert, auch kaum besser. Ihr Mann Sergej, ein erfolgreicher Pianist, den wiederum Existenz- und Versagensängste plagen, hält sie ebenfalls nicht auf, wie sie sich das wünschen würde. Und genau das stört die junge Mutter und Galeristin vermutlich am meisten.
Ohne große Erwartungen ins Abenteuer
Trotzdem lässt sie sich ohne große Erwartungen ins Abenteuer, das keines ist, ein. Daraus entwickelt sich eine vom ungestillten Wissensdrang nach wahrer Familiengeschichte geprägte Persönlichkeit. Sie arbeitet daran immer gezielter, immer konkreter, bis sie am Schluss eigentlich nur das weiß, was sie eigentlich schon vorher wusste. Die blanke Ernüchterung, die sich wie eine Ohrfeige anfühlt? Mitnichten. Olga Grjasnowa schafft es einmal mehr, gekonnt das Leben nachzuzeichnen, wie es vermutlich einfach ist: nicht besonders erkenntnisreich.
Die Identitätssuche ihrer Heldin wird verwebt mit den Fragen junger Juden in Deutschland.
»Es sollte so nah wie möglich sein«, erklärt sie im Gespräch. Natürlich sei alles in Literatur übertragen und somit in eine Kunstform verpackt, »aber das echte Leben hat meistens nicht die großen Enthüllungen parat«.
Dieser unkonventionelle und überraschende Einfall, dass am Schluss keine Katastrophe eintreten muss, macht den fünften Roman der preisgekrönten deutsch-aserbaidschanischen Autorin, die ihre Texte alle auf Deutsch schreibt, unglaublich erfrischend. Angereichert mit Sprachwitz und viel Tempo hat das Buch im Vergleich zur sonstigen Gegenwartsliteratur ungewohnt viel Unterhaltungswert.
Gnadenlos verwebt die Autorin Lous Identitätssuche mit den aktuellen Fragen junger Juden in Deutschland und stößt dabei Themen an, die in Grjasnowas Büchern ohnehin immer von großer Bedeutung sind: Umgang mit den eigenen Wurzeln, Migration, Normalität sowie kulturelle Isolation und Assimilation.
Der Holocaust hängt dabei nicht wie ein Damoklesschwert über den Charakteren, sondern ist die legitime Ausgangslage. Wenn Sergej lapidar seiner Frau, mit der er mehr Sex als Gespräche hat, beispielsweise erklärt, »Juden haben keine Wurzeln. Juden haben Beine«, und sich Lou darüber aufregt, dass ihre Tochter ungefragt bei ihrer Kindergartenfreundin auf ein Berühmte-Menschen-Buch über Anne Frank stößt, so macht sich dieser ehrliche Umgang mit der eigenen jüdischen Identität deutlich.
Lou fragt sich denn auch mehr als ihr Mann, wie viel an jüdischer Bildung sie ihrer Tochter mitgeben müsse. Ihn interessiert ohnehin fast nur seine Klaviatur, doch am besten beherrscht er die des Nichtredens. Zu oft ignoriert er seine Frau, zu oft stehen mehr Fragezeichen als Musiknoten im Raum.
Orchestriert wird das Ganze von verschiedenen Frauen im Umfeld Lous: Mutter, Schwiegermutter sowie Tante und Großtante. Vor allem Letztere nimmt sich gern die Freiheit, sich stets in den Vordergrund zu drängen. Schließlich ist da noch die Putzfrau, die Lou zum Nachdenken bringt, ob ein solches Leben, das sie führt, urban, intellektuell und irgendwie dennoch verloren, überhaupt das richtige ist. Lou lässt sich von ihnen allen treiben, bis sie selbst zur Getriebenen wird, weil der Drang zu wissen, was mit der eigenen Großmutter im Holocaust tatsächlich passiert ist, obsessiv wird.
Das Resultat ist ein durch und durch jüdisches Buch.
Das Resultat ist ein jüdisches Buch durch und durch, weil Grjasnowa das Urjüdische – wenn es das überhaupt gibt – anspricht, und zwar nicht nur die Spurensuche in einer untergegangenen Welt, sondern ebenfalls das Verorten des eigenen Ichs im jüdischen Kontext, ohne diesen jedoch konkret werden zu lassen. Grjasnowa hat dafür zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Sie hat Literatur geschaffen und dabei ihre eigene Familiengeschichte, zumindest partiell, aufgeschrieben. »Es ist das erste Mal, wo das Konzept einer ursprünglichen Buchidee, nämlich die eines Essays, nicht aufging.«
Die Spur der eigenen Großmutter
Daraus entstand nun ein Roman. Dabei war für Grjasnowa schon lange klar, dass auch sie der Spur der eigenen Großmutter, die wie Lous Großmutter aus dem belarussischen Gomel stammt, näherkommen möchte. Dafür durchforstete sie Archive und erschloss sich Orte, die vor dem Ukraine-Krieg noch zugänglich waren. Entstanden ist ein Werk, das in dem Augenblick, als der letzte Buchstabe geschrieben war, schon der Vergangenheit angehörte – deutlich spürbar am Titel Juli, August, September. Es markiert genau die drei Monate, bevor es in Israel an allen Fronten zu brennen begann und es weder Massaker noch Krieg gab.
Es war im wahrsten Sinne des Wortes die Ruhe vor dem Sturm, also eine Zeit, in der jeder noch mit sich selbst beschäftigt war oder vielleicht mit der umstrittenen Justizreform – so als ob Olga Grjasnowa hätte antizipieren können, was geschehen wird. Doch dazu sagt sie schlicht: »Als wir alle am 7. Oktober erwachten, war das Buch schon geschrieben. Am 8. Oktober 2023 wusste ich, dass es ein historisches wird.«
Olga Grjasnowa: »Juli, August, September«. Roman. Hanser Berlin, Berlin 2024, 224 S., 24 €