Gedenkkultur

Das populärste Opfer

Anne Frank (1929–1945) Foto: dpa

»Ein Toter ist eine Tragödie; 1000 Tote sind eine Statistik.« Das Zitat wird Josef Stalin zugeschrieben und ist ebenso zynisch wie zutreffend. Die menschliche Psyche vermag mit Einzelnen mitzufühlen und mit zu leiden. Bei Massen von Menschen, so schrecklich deren Schicksal auch sein mag, versagt die Empathie.

Das trifft auch für die Schoa zu. Sechs Millionen Ermordete sind eine emotional nicht fassbare Abstraktion. Es ist eine Zahl, die die meisten im Kopf präsent haben wie andere historische Daten auch, nicht mehr. Was die Vernichtung der europäischen Juden an Barbarei bedeutete, erschließt sich erst, wenn individuelle Schicksale sichtbar werden. Deshalb hat eine fiktive amerikanische Fernsehserie wie Holocaust Ende der 70er-Jahre mehr an Aufklärung geleistet als unzählige »seriöse« Dokumentationen und pädagogische Projekte zuvor.

Millionenauflage Deshalb auch ist Annelies Marie Frank, die heute vor 85 Jahren in Frankfurt/Main geboren wurde und Anfang März 1945 erst 15-jährig im KZ Bergen-Belsen elendig an Typhus starb, bis heute eine der bekanntesten Figuren der jüngeren Geschichte – nicht nur in Deutschland, wo sie geboren wurde und starb, und in den Niederlanden, wo sie die meiste Zeit ihres kurzen Lebens verbrachte.

In mehr als 70 Sprachen wurde das Tagebuch übersetzt, das das junge Mädchen zwischen 1942 und 1944 in einem Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht schrieb, wo es sich mit seiner Familie vor der Deportation durch die Deutschen versteckt hielt. Anne Franks Aufzeichnungen sind in Millionenauflage erschienen, wurden mehrfach verfilmt und dramatisiert, zuletzt durch Leon de Winter und Jessica Durlacher vor wenigen Wochen. In vielen Ländern ist das Tagebuch Pflichtlektüre in den Schulen. Seit 2009 ist es Bestandteil des UNESCO-Weltkulturerbes.

Der Erfolg bis heute verdankt sich einem paradoxen Umstand: Streng genommen ist das Tagebuch der Anne Frank kein Werk über die Schoa. Die ständige Angst der Versteckten vor Entdeckung und dem, was folgen könnte (und schließlich auch folgte), bildet zwar den Hintergrund. In großen Teilen aber sind die Aufzeichnungen ein Pubertätsdrama, Salingers Fänger im Roggen nicht unähnlich. Gerade junge Menschen können sich damit problemlos identifizieren. Und deshalb stellen sie sich dann oft selbst die Fragen nach den historischen Hintergründen. So hat dieses Buch viele Leser erst zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Holocaust geführt.

kulturindustrie Die Popularität des Tagebuchs hatte und hat bis heute aber auch ihre Kehrseite. Anne Frank ist zu einer Ikone der Kulturindustrie geworden; Missbrauch und Verkitschung gehen damit einher, angefangen bei geschmacklosen Devotionalien bis hin zur politischen Instrumentalisierung: So sprühten niederländische »Israelkritiker« in Amsterdam vor ein paar Jahren ein Graffito an die Wände, das Anne Frank mit palästinensischer Keffija auf dem Kopf zeigte.

»Den Opfern einen Namen geben«, lautet das Motto, unter dem in deutschen Städten junge Juden jedes Jahr an Jom Haschoa die Namen der Ermordeten ihrer Stadt verlesen. Das ist das Erfolgsgeheimnis des Tagebuchs der Anne Frank. Für viele Menschen weltweit hat es den sechs Millionen Toten des Holocaust Namen und Gesicht gegeben.

TV-Kritik

Politisierende Ermittlungen

In »Schattenmord: Unter Feinden« muss eine arabisch-stämmige Polizistin den Mord an einem jüdischen Juristen aufklären

von Marco Krefting  02.12.2025

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert

Kommentar

Schiedsgerichte sind nur ein erster Schritt

Am 1. Dezember startet die Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubkunst. Doch es braucht eine gesetzliche Regelung auch für Werke in Privatbesitz, meint unser Gastautor

von Rüdiger Mahlo  01.12.2025

Rache

»Trigger-Thema« für Juden

Ein Filmseminar der Jüdischen Akademie untersuchte das Thema Vergeltung als kulturelle Inszenierung

von Raquel Erdtmann  01.12.2025

Wuppertal

Schmidt-Rottluff-Gemälde bleibt in Von der Heydt-Museum

»Zwei Frauen (Frauen im Grünen)« von Karl Schmidt-Rottluff kann im Von der Heydt Museum in Wuppertal bleiben. Nach Rückgabe an die Erbin erwarb die Stadt das Bild von ihr. Vorausgegangen waren intensive Recherchen zur Herkunft

 01.12.2025

Dorset

»Shakespeare In Love« - Dramatiker Tom Stoppard gestorben

Der jüdische Oscar-Preisträger war ein Meister der intellektuellen Komödie. Er wurde 88 Jahre alt

von Patricia Bartos  01.12.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 30.11.2025 Aktualisiert

Gerechtigkeit

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz 

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz Jahrzehnte nach Ende des NS-Regimes hoffen Erben der Opfer immer noch auf Rückgabe von damals geraubten Kunstwerken. Zum 1. Dezember starten Schiedsgerichte. Aber ein angekündigter Schritt fehlt noch

von Verena Schmitt-Roschmann  30.11.2025

Berlin

Späte Gerechtigkeit? Neue Schiedsgerichte zur NS-Raubkunst

Jahrzehnte nach Ende der Nazi-Zeit kämpfen Erben jüdischer Opfer immer noch um die Rückgabe geraubter Kunstwerke. Ab dem 1. Dezember soll es leichter werden, die Streitfälle zu klären. Funktioniert das?

von Cordula Dieckmann, Dorothea Hülsmeier, Verena Schmitt-Roschmann  29.11.2025