In einer Zeit, in der auf traditionelle Gewissheiten kein Verlass mehr ist, können Schriftsteller Erzählungen auch nicht mehr in Romanen ausbreiten. An deren Stelle sind die Biografien getreten. Erst die Lebensbeschreibung eines historischen Individuums ermöglicht wieder die geschlossene Form. Die Biografie wird so zur Flucht des Bürgertums vor den Kontingenzen der Moderne.
So beurteilt Siegfried Kracauer 1930 in einem Aufsatz in der Frankfurter Zeitung die Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt. Als Kulturredakteur, Autor der Untersuchung Die Angestellten und Verfasser des autobiografischen Romans Ginster war Kracauer damals auf der Höhe seines Ruhms. Jetzt, anlässlich seines 50. Todestags, ist eine umfassende Biografie über ihn erschienen, vorgelegt vom Freiburger Historiker Jörg Später. Zwar ist es nicht die erste, aber doch eine Monografie, die mit ihrem Umfang und ihrer Substanz ein Standardwerk werden könnte. Und zwar über einen jüdischen Intellektuellen, der sich als kritischer Kulturphilosoph allen akademischen Standards und Zuschreibungen entzieht.
Moderne Biograf Jörg Später stellt dieses Leben unter das Motto der Existenzbewältigung, einer Suche nach dem Zugang zur Welt. So lässt er dieses mit dem theoretischen Leitinteresse in Kracauers Werk, der Untersuchung der »physischen Realität« in der Moderne, zusammenfallen. Diese Biografie ist deshalb nicht nur die Darstellung eines Menschenlebens, sondern auch die einer Lebenswelt mitsamt den Beziehungen, die zur Existenzbewältigung gehören.
Kracauer, 1889 in Frankfurt am Main geboren und nach dem Krieg Autor der Frankfurter Zeitung, war Teil einer jüdischen Gruppe von Intellektuellen, bestehend aus Walter Benjamin, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno. Es ist vor allem die ambivalente Freundschaft mit Adorno, die sich durch das Leben des Denkers zieht. Der Vater der Kritischen Theorie lernte den viel älteren Kracauer als Schüler kennen und wurde im Laufe der Jahre zu dessen schärfstem Kritiker – seinen Studenten empfahl er in den frühen 60er-Jahren nur die Schriften Kracauers aus der Weimarer Republik bis 1933. Jörg Späters Verdienst liegt darin, dieses Kracauer-Bild ebenso geschickt wie gehaltvoll zu erweitern, indem er ihn unter Einbeziehung eines enorm verdienstvollen Apparats an Sekundärliteratur in den Strömungen seiner Zeit verortet.
Fast in jedem Kapitel flankieren andere Denker seine Entwicklung. Er erscheint nicht mehr nur als der »wunderliche Realist« (Adornos Etikettierung) oder als soziologischer Privatier, sondern als Zeitgenosse. Als Kracauer 1941 in letzter Minute die Flucht aus Europa in die USA gelingt, wanderte er auch in die angelsächsische Wissenschaftskultur ein. Dort wurde er schließlich mit seiner Untersuchung Von Caligari zu Hitler zum Vorläufer der universitären Filmwissenschaft.
briefe Wie sein Denken erscheint dann auch der Mensch Kracauer immer in einem bestimmten Daseinsraum. Sein Biograf zieht ihn aus einem umfassenden Korpus an Briefwechseln heraus und zeichnet das Bild der ständigen Suche nach einem Platz in der Welt. Die Existenzbewältigung ist nicht nur eine Aufgabe oder eine ökonomische Sorge des Intellektuellen, sondern bedeutet auch das nackte Überleben in der Welt. Besonders erschütternd sind die Briefe von Mutter und Tante, die nach 1933 in Deutschland blieben und sich wie eine Chronik über die Situation von Juden in Hitler-Deutschland lesen.
Späters Biografie ist eine wissenschaftliche, geschrieben mit der Feder des Historikers. Bis auf ein paar reizvolle Ausbrüche wagt er sprachlich nicht viel. Allerdings erlaubt erst diese geschlossene Form der Biografie zu zeigen, wie schwierig es ist, nach außen zu treten und mit der Lebenswelt in Kontakt zu kommen. Da wirkt jede Hintertreppe in die Geistesgeschichte notwendig als Ausbruch aus dem biografischen Material. Kracauer hätte es sicherlich gefallen.
Jörg Später: »Siegfried Kracauer«. Suhrkamp, Berlin 2016, 743 S., 39,95 €