Geschichte

Das Mittelalter in der Moderne

Zog alle Register des klassischen und modernen Judenhasses: »Der Stürmer« Foto: dpa

Waren Faschismus, Nationalsozialismus und Holocaust Kinder der Moderne? Sah man lange Zeit faschistische Ideologie und Kultur als reaktionär und anachronistisch an, betont die jüngere Forschung ihre modernistischen Züge. Der industriell organisierte Massenmord an den Juden, so Zygmunt Baumans einflussreiche These, wäre ohne moderne Bürokratie nicht möglich gewesen.

IDEOLOGIEN Den Judenhass der Nazis führte bereits Hannah Arendt auf säkulare Ideologien des 19. Jahrhunderts wie Nationalismus und Rassismus zurück und grenzte ihn von der historischen Verteufelung der Juden durch die Christen ab.

Auch der Vatikan zieht eine klare Trennlinie zwischen modernem Antisemitismus und traditionellem »Antijudaismus«. In Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah, der 1998 veröffentlichten Erklärung der römisch-katholischen Kirche über ihre Verantwortung für den Holocaust, gesteht sie zwar eine Rolle in der Diskriminierung der Juden ein. Die »antijüdische Gesinnung in einigen christlichen Kreisen und die Kluft zwischen der Kirche und dem jüdischen Volk« quer durch die Geschichte sei aber religiös motiviert gewesen, im Gegensatz zum »eher soziologisch und politisch« begründeten Antisemitismus.

Antijudaismus und Antisemitismus lassen sich nicht streng unterscheiden.

Doch eine solche Unterscheidung zwischen Mittelalter und Moderne in der Hetze gegen die Juden ist wenig haltbar. Der Vatikan verbreitete bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht nur althergebrachte Vorwürfe wie den Mord an Jesus. In der Zeitung des Vatikans, »L’Osservatore Romano«, und anderen kirchennahen Schriften wurden auch regelmäßig Klischees neueren Datums wie jenes einer jüdischen Weltverschwörung bedient.

MOTIVE Vermeintlich mittelalterliche und moderne Motive vermischte auch die judenfeindliche Propaganda im Dritten Reich und in Mussolinis Italien. Zwar benutzte die faschistische Propaganda wissenschaftlich verbrämten Rassismus und die Darstellung der Juden als dunkle Macht hinter den Zwillingsübeln der Moderne, Liberalismus und Kommunismus. Doch um Deutschen und Italienern die jüdische Gefahr zu verdeutlichen, machten die Faschisten auch ausgiebig Gebrauch von Motiven mittelalterlichen Ursprungs: vom Christusmord über Talmud-Kritik bis hin zur Brunnenvergiftung und Hostienentweihung. Das ergibt ein Vergleich der jeweils einflussreichsten – und berüchtigtsten – Hetzblätter gegen die Juden in beiden Ländern, »Der Stürmer« und »La Difesa della Razza« (Die Verteidigung der Rasse).

Die extreme und vulgäre Hetze des »Stürmer« hatte große Wirkung auf das Judenbild im Dritten Reich. Der »Stürmerjude« mit Hakennase, Glupschaugen und Plattfuß aus den Karikaturen der Titelseite wurde sprichwörtlich. Sexuell eingefärbte Abbildungen und Artikel warnten die »deutschen Frauen« regelmäßig vor der »Rassenschande«.

Überall im Reich gab es aufwendig verzierte »Stürmerkästen«, an denen Passanten jede neue Ausgabe lesen konnten. Eigentümer und Herausgeber des Blattes war Julius Streicher, einer von Hitlers treuesten Mitstreitern. In den Nürnberger Prozessen wurde er als »Judenhetzer Nummer 1« zum Tod am Galgen verurteilt.

»La Difesa della Razza« begleitete auf Mussolinis Anweisung hin die Einführung der Rassengesetze in Italien ab Mitte 1938 propagandistisch. Mit pseudowissenschaftlichem Anstrich vermittelte sie die nunmehr zur offiziellen Politik erhobenen Rassentheorien und rief die Italiener auf, offen rassistisch zu handeln.

Als Herausgeber fungierte das für Propaganda verantwortliche Ministerium für Volkskultur, das jede Ausgabe an Schulen und Universitäten in ganz Italien schickte. Mussolini vergab den Posten des Chefredakteurs an den einflussreichen Journalisten und notorischen Antisemiten Telesio Interlandi, der nach Kriegsende von einer Amnestie für faschistische Verbrechen profitierte.

BLUT Hervorstechend unter den christlichen Motiven gegen die Juden in beiden Blättern war der Ritualmord. Dieser aus dem Mittelalter stammenden Legende zufolge ermorden Juden christliche Jungen, um ihr Blut bei der Herstellung von Mazze für das Pessachfest zu verwenden. Bezeichnenderweise fanden Ritualmordvorwürfe und damit zusammenhängende Gerichtsprozesse ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gerade als der »moderne« Antisemitismus Gestalt annahm.

»Der Stürmer« und »La Difesa« verwerteten viele bildliche Darstellungen des Ritualmords aus verschiedenen Jahrhunderten. Beispielsweise druckte der »Stürmer« mehrmals die Zeichnung (einer undatierten »polnischen Plakette« folgend) einer Gruppe jüdischer Männer, die einem nackten Knaben das Blut aussaugen.

Der »Stürmer« kritisierte die Kirche dafür, sich vom Ritualmordvorwurf abgewendet zu haben.

Später nutzte »La Difesa« ebendieses Bild für eine Titelseite mitsamt Werbung für den Sonderteil »Judaismus und Bolschewismus gegen die Zivilisation«.

Auf eine andere Titelseite der Zeitschrift schaffte es das wohl bekannteste vermeintliche Ritualmordopfer: Simon von Trient. Im Jahre 1475 in einem Fluss tot aufgefunden, wurde er später vom Vatikan heiliggesprochen. Eben jener berühmte Holzschnitt seiner angeblichen Ermordung aus der Schedelschen Weltchronik von 1493 fand sich auch in mehreren Ausgaben des »Stürmer«.

Mutmaßlich noch wirkungsvoller als solche historischen Darstellungen waren jedoch eigens erstellte Karikaturen. Eine dieser Karikaturen von Philipp Rupprecht, die Hand hinter dem »Stürmerjuden«, hatte den doppeldeutigen Titel »Judenopfer«. Sie zeigte zwei Juden, die eifrig das aus den aufgeschlitzten Halsschlagadern blonder Frauen und Kinder hervorspritzende Blut auffangen. Die Karikatur erregte internationales Aufsehen und wurde vielfach von judenfeindlichen Publikationen nachgedruckt – bis heute. Auch »La Difesa« druckte sie noch Jahre später.

MÄRTYRER Um die Existenz von Ritualmorden zu untermauern, verwiesen beide Blätter häufig auf die römisch-katholische Kirche und kirchennahe Schriften. Zum Beispiel enthielt eine der beiden Sonderausgaben des »Stürmer« zum Ritualmord sechs »Beweise«.

Einer dieser Beweise bestand aus jenen Fällen, die »durch die Kirche bestätigt und überliefert« worden waren. Es folgte eine Liste von 17 vermeintlichen Opfern, darunter Simon von Trient, die der Vatikan heiligsprach oder zu Märtyrern erklärte.

Ein Artikel über einen Fall aus dem Jahr 1287 versicherte den Lesern: »Auf eine Sage, auf eine bloße Legende hin, wie sie das Volk sich erzählt, hat die Kirche noch niemanden heiliggesprochen.«

Andernorts behauptete der »Stürmer«, er habe mithilfe von »Kirchenbüchern« und »Vatikanischen Akten« den Ritualmord als Tatsache nachgewiesen. Auch »La Difesa« stützte sich regelmäßig auf Berichte in »L’Osservatore Romano« und anderen katholischen Zeitungen.

Doch gab es auch aufschlussreiche Abweichungen in der Behandlung der Legende. »La Difesa« stellte den Ritualmord als talmudische Praxis dar. Wären die Juden anstelle des Talmuds dem Alten Testament und seinen Geboten gefolgt, so ein Artikel, würde es weder Ritualmorde noch die Judenfrage an sich geben.

Hingegen war der Ritualmord dem »Stürmer« zufolge fester Bestandteil des Judentums von Anfang an. Das zeige nicht zuletzt das Studium des Alten Testaments, das den Ritualmord geradezu befördere. Streicher beschrieb etwa die Opferung Isaaks durch Abraham als versuchten Ritualmord. An anderer Stelle bezeichnete der »Stürmer« die Kreuzigung Jesu als »größte(n) Ritualmord aller Zeiten«.

In einem weiteren Artikel heißt es, jedes Frühjahr müssten die Juden »einen der Besten unter den Gojims« opfern: »So wurde Jesus von Nazareth geschlachtet. So schreit Jahr für Jahr das Blut rituell gemordeter Menschen und Völker zum Himmel.«

PÄPSTE Unterschiedlich wurde auch die Rolle der Kirchen in der Verbreitung der Legende bewertet. Das italienische Heft ignorierte schlicht die wechselhafte Haltung der Päpste über die Jahrhunderte. Stattdessen konzentrierte es sich auf die vielen Fälle, in den die Päpste und andere kirchliche Autoritäten Ritualmorde bestätigten.

»Der Stürmer« hingegen geißelte die zeitgenössischen Kirchen dafür, sich von ihrer traditionellen Bekräftigung des Ritualmordvorwurfs abgewendet zu haben. Er verwies auch auf ältere protestantische Quellen wie Martin Luther und seine Hetzschrift Von den Juden und ihren Lügen. Diese Unterschiede spiegelten nicht zuletzt die oft schwierigen Beziehungen zwischen den Kirchen und dem Staat im Dritten Reich wider, während Mussolini auf die Zusammenarbeit mit dem Vatikan bedacht war.

Das Versprechen der Moderne von weniger Diskriminierung durch gesellschaftlichen und technischen Fortschritt ist schon oft enttäuscht worden. Für die steigende Zahl antisemitischer Vorfälle in jüngerer Zeit, auch in Deutschland und Italien, sind nicht zuletzt die Sozialen Netzwerke verantwortlich. Sie dienen oft zur Verbreitung altbekannter judenfeindlicher Klischees, ganz wie es »Der Stürmer« und »La Difesa della Razza« taten, mit verheerenden Folgen.

Der Autor veröffentlichte zu diesem Thema gemeinsam mit David Kertzer den Artikel »The Medieval in the Modern: Nazi and Italian Fascist Use of the Ritual Murder Charge« in der Zeitschrift »Holocaust and Genocide Studies« 33 (2019).

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