Martin Greenfield hat seine Geschichte schon oft erzählt, sogar ein Buch ist im vergangenen Jahr daraus gemacht worden: Measure of a Man: From Auschwitz Survivor to Presidents’ Tailor (Regnery, New York 2014, 250 S., 27,99 US-$). Und doch ist er es nicht leid, davon zu berichten, insbesondere, wenn er einen Deutschen in seinem Büro in Brooklyn zu Gast hat. Vor allem jetzt, da der Antisemitismus in Europa wieder aufflammt. »Die jungen Leute müssen das wissen«, sagt der 86-Jährige.
erfolgsstory Greenfield sitzt hinter seinem Schreibtisch in der Großschneiderei, in der er 1947 als Laufbursche angefangen hat und die er seit 45 Jahren leitet, adrett gekleidet in einen Dreiteiler mit rosafarbenem Hemd und einem lilafarbenen Einstecktuch. An der Wand hinter ihm hängen gerahmte Bilder seiner prominenten Kunden, von Frank Sinatra und Paul Newman bis zu Dwight D. Eisenhower und Barack Obama.
Das kostbarste Foto im Raum steht jedoch in einem Messingrahmen vor ihm auf dem Schreibtisch. Das sepiafarbene Bild wurde 1936 im damals tschechoslowakischen, heute ukrainischen Pavlovo aufgenommen, einer kleinen Stadt in den Karpaten. Es zeigt eine glückliche Kleinfamilie: den acht Jahre alten Martin, der damals noch Maximilian Grünfeld hieß, genannt Max, in einer Pepitajacke mit Schlips, seine Eltern Joseph und Tzyvia, ein gut aussehendes junges Paar, seine beiden Schwestern Simcha und Rivka. Noch nicht dabei sein kleiner Bruder Sruel, der erst zwei Jahre später auf die Welt kam.
Niemand auf dem Foto außer Martin Greenfield hat die Schoa überlebt. Seine gesamte Familie wurde in Auschwitz ermordet. Wenn Greenfield das Bild in die Hand nimmt, werden seine Gesichtszüge steinern. Er hat keine Tränen, aber auch keinen Hass in sich. »Das letzte Mal, als ich meinen Vater gesehen habe«, erinnert er sich, »hat er gesagt, ich soll nicht um ihn weinen. Stattdessen soll ich ihn ehren, in dem ich lebe und glücklich werde.«
Das hat Martin Greenfield nach Kräften getan. Er gilt als einer der besten Herrenschneider der Welt, seine Maßanzüge sind in Washington ebenso beliebt wie in Hollywood. Seine Schneiderei im Industriebezirk East Williamsburg beschäftigt 120 Menschen, die beiden Söhne leiten heute die Geschäfte. Greenfield hat sechs Enkelkinder, er hat ein erfülltes, erfolgreiches Leben gelebt. Man erkennt noch immer den kleinen Jungen von dem Foto aus Pavlovo, auch wenn die Haare mittlerweile weiß geworden sind und das Gehör nicht mehr ganz so gut funktioniert. Noch immer schwebt er leichtfüßig in seinen glänzenden Lackschuhen über den knarzenden alten Fabrikboden, schaut den Nähern über die Schulter, überprüft Knopflöcher, bügelt selbst Falten, wenn es sein muss. Sechs Tage die Woche, jahrein, jahraus.
auschwitz Max Grünfelds idyllische Kindheit endete abrupt im April 1944. Es war der zweite Tag von Pessach, er erinnert sich daran noch genau. Eine Stunde hatte die Familie Zeit, das Nötigste zusammenzupacken, bevor deutsche und ungarische Soldaten die Juden des Dorfes auf die Straße trieben und sie sechs Kilometer zum nächsten Bahnhof marschieren ließen. Die Fahrt in einem Viehwaggon ging 20 Kilometer in die nächste größere Stadt Mukacevo. Dort hatten die Nazis ein Ghetto eingerichtet. Es war eine Zwischenstation, ein Vorhof zur Hölle, und der 15-Jährige begann zu ahnen, was der Familie bevorstand.
Nur Wochen später wurden die Grünfelds mit einem der letzten Transporte nach Auschwitz deportiert. Martin Greenfield erinnert sich an die kleine Hand seines erst fünf Jahre alten Bruders, die sich während der ganzen Fahrt fest an seine klammerte. Er erinnert sich, wie sich die Familie in dem Waggon aneinander festhielt, um sich zu wärmen. Und er erinnert sich an den strahlend blauen Himmel bei der Ankunft in Auschwitz. »Ich dachte, an so einem Tag kann nichts Schlimmes passieren.«
Dann ging alles ganz schnell. An der Rampe selektierte der berüchtigte Lagerarzt Josef Mengele sofort die Mutter und die Schwestern aus. Max und sein Vater waren kräftig und wurden zum Arbeiten auserkoren. Auch Sruel sollte zunächst verschont werden, doch die Mutter wollte ihn nicht loslassen. Sie wusste ja nicht, dass es in die Gaskammer ging. Mengele zuckte nonchalant mit den Schultern, als ihm das Bitten und Betteln zu anstrengend wurde und ließ der Mutter ihren Willen. Es war das letzte Mal, dass Max Grünfeld seine Familie sah.
Greenfields Sohn Jay, dessen Schreibtisch auf der anderen Seite des großen, etwas chaotischen Raumes steht, wird ungeduldig, er hat das alles schon Tausende Mal gehört. »Papa, du erzählst ja deine ganze Lebensgeschichte«, wirft er ein. Doch sein Vater lässt sich nicht beirren. Statt innezuhalten öffnet er den Manschettenknopf seines Hemdes mit dem Siegel der Stadt New York, »ein Geschenk vom Bürgermeister«, sagt er stolz. Dann krempelt er den Ärmel hoch und zeigt seine Tätowierung. Die Häftlingsnummer A4406 ist kaum mehr zu erkennen. Die Tinte ist zwischen den Hautschichten verlaufen. Doch die Erinnerung ist nicht verblasst.
befreiung Der junge Max befolgte in Auschwitz den Rat seines Vaters, sich, um zu überleben, immer nützlich zu machen. Er arbeitete in der Wäscherei, sortierte die Habseligkeiten der neu Angekommenen, transportierte Leichen, war Maurer. Seine robuste Konstitution ließ ihn Hunger, Kälte und grassierenden Seuchen trotzen.
Im Januar 1945, als die Rote Armee kurz vor Auschwitz stand, wurde das Lager von den Deutschen evakuiert. Die Wachleute trieben die geschwächten, halb verhungerten Überlebenden zusammen und setzten sie in Marsch, Richtung Gleiwitz, 60 Kilometer von Auschwitz entfernt. Von den 10.000, die in Auschwitz losmarschierten, überlebten 500. Die SS hetzte die nur mit Lumpen und Holzschuhen bekleideten Häftlinge im Laufschritt durch den knietiefen Schnee. Wer zurückfiel, wurde sofort erschossen. Max Grünfeld stahl mit dem Mut der Verzweiflung Proviant aus dem Tornister eines SS-Manns und verbuddelte sich im Schnee, um nicht erwischt zu werden. Mit letzter Kraft kam er in Gleiwitz an.
Die letzten Monate des Krieges verbrachte der Junge in Buchenwald, als Arbeitssklave in einer nahe gelegenen Munitionsfabrik. Kurz vor der Befreiung durch die Amerikaner musste er im nahe gelegenen Weimar helfen, Bombentrümmer zu beseitigen. Er entdeckte dabei zwei Hasen, die in ihrem Käfig den Luftangriff überlebt hatten und brachte sie der Herrin des zerbombten Hauses. Statt ihm zu danken, zeigte sie ihn bei der Gestapo an. Max hatte eine der Karotten der Hasen gegessen.
Zwei Wochen später marschierte die US-Armee in Weimar ein und befreite Buchenwald. General Dwight D. Eisenhower, der alliierte Oberkommandierende, besichtigte persönlich das Lager und schüttelte Max die Hand.
odyssee Der befreite Häftling hatte noch eine Rechnung offen. Der Vorfall mit der Karotte saß ihm unter der Haut. Es war, als ob sich sein ganzer Zorn über die Schoa und den Verlust seiner Familie auf die Frau projizierte, die ihn denunziert hatte. Max Grünfeld schnappte sich eine konfiszierte Maschinenpistole der SS und fuhr zu dem Haus. Doch als er die Denunziantin mit ihrem Baby auf dem Arm sah, brachte er es nicht über sich, abzudrücken. »Ich habe an meinen Großvater gedacht, der mir beigebracht hat, nicht zu töten, gleich, was man dir angetan hat.« Dafür ist Martin Greenfield bis heute dankbar. »Ich bin Mensch geblieben. Trotz allem.«
Die nächsten zwei Jahre irrte Max durch Europa, in der Hoffnung, seinen Vater zu finden. Er arbeitete als LKW-Fahrer und brachte Überlebende, die nach Eretz Israel auswandern wollten, über die italienische Grenze. Und er heuerte bei der tschechischen Armee an, obwohl alle Schlachten geschlagen waren. »Ich wollte zumindest zeigen, dass ich kampfbereit bin.« Wo immer er hinkam, fragte er, ob irgendjemand etwas von seinem Vater gehört hatte.
In einem Flüchtlingslager in Budapest erhielt er dann im Sommer 1946 die Gewissheit, dass sein Vater es nicht geschafft hatte. Ein Bekannter aus Pavlovo, den er dort traf, bezeugte, dass Joseph Grünwald eine Woche vor der Befreiung in Buchenwald erschossen worden war, nur ein paar Hundert Meter von Max’ Baracke entfernt. Er war mit einer Maurerarbeit nicht rechtzeitig fertig geworden.
Die Nachricht war niederschmetternd – aber auch befreiend. Maximilian Grünfeld konnte nun ein neues Leben anfangen, so wie sein Vater es ihm aufgetragen hatte. Als sich die Gelegenheit ergab, schiffte er in Bremerhaven in Richtung New York ein.
brooklyn Amerika war von Anfang an gut zu Martin Greenfield, wie er jetzt hieß. Die neue Welt nahm ihn mit offenen Armen auf. Er bekam über entfernte Verwandte einen Job als Schneider in Brooklyn, verlebte aufregende Junggesellenjahre in New York und arbeitete sich schnell in der Firma hoch. Bald wurde er nach Hollywood geflogen, um Anzüge für Filmstars zu schneidern. Mitte der 50er-Jahre durfte er dann die Anzüge für Präsident Eisenhower nähen, dem er in Buchenwald die Hand geschüttelt hatte. »Ich habe mich mächtig ins Zeug gelegt«, sagt Martin Greenfield. »Schließlich hatte ich diesem Mann mein Leben zu verdanken.«
Ende der 60er-Jahre bekam er dann die Gelegenheit, den Betrieb zu übernehmen. Sein größtes Glück im Leben, sagt Martin Greenfield, sei es jedoch gewesen, eine eigene Familie zu gründen. »Als Jay 1958 zur Welt kam«, sagt er, »habe ich zum ersten Mal geweint.« Der lange verdrängte Schmerz über den Verlust seiner Familie, über den er bis dahin nicht einmal mit seiner Frau gesprochen hatte, brach sich endlich Bahn, als er sein eigenes Kind an die Brust drückte.
Es ist Mittagszeit in der Großschneiderei in Brooklyn, die Beschäftigten sind zum Lunch in das Viertel ausgeschwärmt, die Werkstatt steht leer. Martin Greenfield streift durch die alte Halle, die ein wenig nach Staub, Moder und Schweiß riecht. Er streift mit der Hand über einen Stapel Stoffrollen im Regal, prüft einen Kleiderständer mit fertigen Anzügen, zupft die Ärmel an einem halb fertigen Jackett zurecht, das über eine Kleiderpuppe gespannt ist. Er wirkt zufrieden, hier in seinem Reich, in seinem Leben, das er sich geschaffen hat, hier in Brooklyn, eine halbe Welt und fast ein ganzes Leben von Auschwitz entfernt.