Am Anfang sind unbekümmerte Teenager auf dem Treppengeländer einer Wohnung zu sehen, mit bunten Lutschern im Mund während einer Geburtstagsfeier. »Komm, leck mal!«, wird das Geburtstagskind hinter der Kamera aufgefordert – allseits Gelächter.
Die Aufnahmen stammen von einem dumpf getönten, fast schwarz-weißen Camcorder-Video, Ende der 90er-Jahre. Mitten in der Aufnahme fängt auf einmal das dunkelhaarige Geburtstagskind an, »Happy Birthday« zu singen, und posiert vor der Kamera, als wäre es schon seit Langem ein Star.
Mit einem jazzigen Rhythmus wechselt die erste Szene in Asif Kapadias neuem Dokumentarfilm Amy, der diese Woche in den britischen Kinos anläuft und ab dem 16. Juli auch in Deutschland gezeigt wird. Der Beat wird zum Lied: »Moon river, wider than a mile I’m crossing you in style, some day ...«, vorgetragen von der 16-jährigen Amy Winehouse, zusammen mit dem britischen Jugend-Jazzorchester.
Ein paar Filmszenen weiter erklärt Winehouse dem Guardian-Journalisten Garry Mulholland, kurz bevor ihr erstes Album sie zu einer weltweit gefeierten Sängerin macht: »Ich könnte mit dem Berühmtsein nicht umgehen. Ich würde verrückt werden.«
privat Es sind unveröffentlichte Szenen wie diese, die auch eingefleischte Fans des am 23. Juli 2011 tot in ihrer Wohnung aufgefundenen Stars überraschen und bewegen werden. Doch auch jene Zuschauer, welche die Karriere der Sängerin bisher nur am Rande verfolgt haben, wird ihre in dem Film dokumentierte Lebensgeschichte wie eine Achterbahn ohne Happy End unaufhaltsam mitreißen.
Und doch kann der Film des durch die Dokumentation über den brasilianischen Formel-1-Rennfahrer Ayrton Senna bekannt gewordenen Filmemachers höchstens versuchen, die Umstände zu erklären, die letztlich zu ihrem frühen Tod führten. Dazu befragte Kapadia über 100 Personen aus dem Umfeld der Sängerin und verwendete zahlreiche, in der Öffentlichkeit bisher unbekannte Dokumente wie private Anrufbeantworternachrichten von Amy Winehouse.
Unter den befragten Menschen befinden sich Familienmitglieder, Freunde, Manager, Musiker, aber auch Ärzte und Psychologen. Der rund zwei Stunden lange Film ist eine Anklage gegen alle, die an der Ausbeutung dieses jungen Talents beteiligt waren, um sich selbst zu bereichern.
depressionen Der Film verrät auch, wie Winehouse unter der Trennung ihrer Eltern litt, bereits im Alter von 13 Jahren Antidepressiva verschrieben bekam und ab dem 15. Lebensjahr bis zu ihrem Tod an Bulimie litt. Die Eltern glaubten jedoch, zumindest am Anfang, all das gehe früher oder später vorüber – eine fatale Annahme, wie Winehouses Mutter Janis heute zugibt. Auch Vater Mitch scheint seine Tochter lange nicht richtig verstanden zu haben. »Ich hatte das Gefühl, Amy kam mit der Trennung gut klar«, berichtet er an einer Stelle der Dokumentation.
Sowohl Mitch Winehouse als auch Amys Ex-Mann Blake Fielder-Civil, der im Film offen zugibt, die Sängerin in die Welt der harten Drogen eingeführt zu haben, erklärten inzwischen, dass die Dokumentation sie falsch darstelle. »Es ist respektlos zu behaupten, dass ich eine Art machiavellistischer Puppenspieler bin. Amy hatte schon vorher Probleme«, meint Fielder-Civil. Vater Mitch beklagt, dass der Film zahlreiche sachliche Fehler und haltlose Vorwürfe gegen ihn und das Management enthalte. Und doch bekennt auch er: »Ich habe sicherlich Fehler gemacht.«
Unter den nicht wenigen dubiosen Personen in Amy Winehouses Leben sticht ihr Manager Raye Cosbert besonders hervor. Sein Hauptinteresse schien einzig und allein die perfekte Abfolge von Winehouses Konzerten zu sein – auch als die Sängerin schon längst nicht mehr hätte auftreten dürfen.
ausbeutung Hier schafft es Kapadia eindrucksvoll, einen der bekanntesten Momente aus Amy Winehouses Leben neu zu definieren. So behauptet Cosbert, dass Winehouse im Jahr 2011 zustimmte, eine Serie von Konzerten zu geben. Laut Aussagen aller anderen Personen, die der Sängerin nahestanden, wollte sie jedoch keineswegs mit dem alten Material auf die Bühne, sondern lieber an einem neuen Album arbeiten.
Trotzdem pochte Cosbert auf die Konzerte. Ihre Auftritte brachten ihm große Summen ein. Ohne Möglichkeit, sich der Tour zu entziehen, protestierte Winehouse mit den ihr einzig möglich erscheinenden Mitteln: indem sie sich betrank. Ein Weggefährte berichtet, wie Winehouse 2011 im Tiefschlaf vom Bett in ihrer eigenen Wohnung aus in ein Taxi geschleppt, schlafend zum Flughafen chauffiert und von dort in einem Privatjet zum Konzert nach Serbien geflogen wurde.
Doch die »The Show must go on«-Strategie des Managements schlug fehl: Am selben Abend verwehrte sich Winehouse vor laufender Kamera dem Publikum und torkelte auf der Bühne herum, statt zu singen. Die Aufnahmen davon liefen auf allen Fernsehsendern und wurden zum Gespött der Welt. Winehouse indes errang damit einen Sieg über ihren Manager – die restliche Tour wurde gestrichen.
klarheit Es folgte eine einmonatige Periode der Klarheit. Winehouse entzog sich größtenteils des Alkohols und rief sogar ihre alte Schulfreundin Juliette Ashby an. »Sie entschuldigte sich für alles, was ich mitmachen musste«, so die Freundin.
Am 24. Juli 2011 wollte die Sängerin sie und andere Freunde auf der Hochzeit ihres ersten Managers Nicky Shamansky treffen. Am Morgen des 23. Juli erlag Amy Winehouse einem Herzversagen nach einer einsamen Nacht des Trinkens in ihrem Schlafzimmer. Die aus aller Welt geladenen Hochzeitsgäste wurden zur Trauergemeinde. Zum Todeszeitpunkt lag Winehouses Alkoholpegel bei über vier Promille.
Tony Bennett, der damals mit ihr Monate zuvor die Jazznummer »Body and Soul« vertonte, bezeichnet Amy Winehouse im Film als eine der größten Jazzsängerinnen, die er jemals gehört hat. »Sie ist auf dem gleichen Niveau wie Ella Fitzgerald und Billie Holiday gewesen. Mindestens.«
Ohne ihre Sucht und Depressionen hätte Amy Winehouse nicht so persönliche Texte wie auf dem Album Back to Black geschaffen, welche sie zu Weltruhm brachten. Die Hürden ihres Lebens dienten als Inspiration ihrer Songs, das unterstreicht die Dokumentation eindrucksvoll. Unbeantwortet bleibt indes die Frage, an welcher Stelle das Leben der Amy Winehouse eine falsche Wendung bekam – und wie dies hätte verhindert werden können.
Filmstart ist am 16. Juli 2015
Der offizielle Trailer: www.youtube.com/watch?v=Za3lZcrzzcM