Teta Jele, die Tante von Adriana Altaras, spielte im Bestseller Titos Brille (2012) der Berliner Autorin eine Nebenrolle. In Altaras’ neuem Buch Besser allein als in schlechter Gesellschaft wird dieselbe Tante, die mit 101 Jahren gestorben ist, zur Hauptfigur und tritt – abwechselnd mit ihrer Nichte Adriana – als Erzählerin auf. »Manchmal denke ich, sie hat ihre Teile geschrieben und ich meine«, sagt Altaras.
STRUKTUR Eine »Struktur von Schnitt und Gegenschnitt« nennt es der Literaturkritiker Ijoma Mangold, der am Montagabend die Buchpremiere im Deutschen Theater in Berlin moderierte – mit tiefer Sympathie für das Œuvre der Schauspielerin, Regisseurin und Autorin, die ihr Publikum mit zahlreichen Anekdoten erheiterte, aber auch so eindringlich, dass Altaras anmerkte: »Du hakst echt nach!«
Ihr neues Buch liest sich genausogut wie Titos Brille. Wieder erzählt die Autorin in kurzen Sätzen und mit abgründigem Humor von schweren Themen: »Tante hat zwei Seuchen erlebt, die Spanische Grippe und dieses Desaster jetzt. Einen Weltkrieg, die Schoa mitsamt KZ und eine norditalienische Schwiegermutter.«
KRISEN Während der »Malattia« (so bezeichnet die Autorin die Corona-Pandemie) lebt die Tante isoliert in einem Pflegeheim in Mantua. Gleichzeitig macht Adriana Altaras in Berlin eine schwere Krise durch: Nach 30 Jahren Ehe wird sie von ihrem Mann verlassen. Es ist die alte Tante, die ihr in dieser Situation Halt gibt: »Das geht vorbei. Er ist ein Idiot. Sie sind alle Idioten. Sie sind feige. Du hast nichts falsch gemacht. Vergiss ihn. Schau, wie schön der See ist«, rät sie ihrer verzweifelten Nichte.
Eine »tröstliche Wirkung bei der Lektüre« hat Ijoma Mangold festgestellt. Die liegt wohl darin, dass Altaras ihrer Tante so nahestand wie einer Mutter, sie aber mehr auf Abstand erlebte: »Sie muss mich nicht erziehen, und ich muss mich nicht wehren. Das ist Liebe.«
LEKTORAT Der Trost erklärt sich aber auch dadurch, dass dieses perfekt lektorierte Buch die Schwächen der geliebten Tante beschreibt, ohne sie zu verraten – wie ihr Wahn, bestohlen zu werden. Und das so überzeugend, dass Ijoma Mangold bekannte, er wolle später einmal »wie die Tante werden« und im Alter andere beschuldigen, ihn zu bestehlen, wenn er selbst seine Sachen verliere.
Was macht es mit einer Autorin, die alle ihr nahestehenden Menschen in literarische Figuren verwandelt?, wollte der Kritiker wissen. »Die meisten, über die ich schreibe, sind schon tot«, antwortete Altaras. In Menschen, die sie kenne, könne sie sich gut einfühlen und sie allgemeingültiger machen. Auch deshalb fällt die Lektüre leicht (wenngleich die Psychoanalytikerin Dr. Luise nicht zu den Figuren gehört, die man im nächsten Buch wiedertreffen möchte).
Der Tante gleichen möchte übrigens auch die Rezensentin – zumindest, was die Sätze der alten Frau im Buch betrifft: »Ich habe schon 99 Mal Geburtstag gefeiert. Und heute zum 100. Mal. Vielleicht habe ich das Leben nicht gemeistert, aber gelebt habe ich es.«
Adriana Altaras: »Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 240 S., 22 €