Porträt

Das Leben ist ein Tanz

Bei Hofesh Shechter ist alles anders. Ihn finden alle toll. Und zwar weltweit, wie ein Blick auf den Tourneeplan der nächsten Monate verrät. Soviel Einigkeit wie in diesem Fall gibt es selten unter Zuschauern und Kritikern. Dabei fordert der Israeli seinem Publikum einiges ab. Vor einer Vorstellung seiner Hofesh Shechter Company werden zwar regelmäßig Ohrstöpsel verteilt.

Die aber federn die physische Erschütterung durch basslastige Beats, verstärkt durch treibende Schlagzeugeinsätze in oft infernalischer Lautstärke, keineswegs ab. Knallhart durchpulst die musikalische Dauerattacke die Gehörgänge, sie fährt in den Magen, wie es sonst nur die Krachorgien von Rammstein oder den Einstürzenden Neubauten tun.

Darüber hinaus muss sich das Auge erst einmal an das vom Choreografen bevorzugte diffuse Bühnendunkel gewöhnen und wird außerdem immer wieder unerwartet geblendet von blitzenden Punktscheinwerfern. Wer Shechter sagt, kriegt Rockkonzert und Tanzvorstellung in einem. Und dabei in jeder Beziehung kräftig eins auf die Mütze.

»Grand Finale« ist ein unaufhörlicher Taumel mitreißender Bilder.

NACKT Sehr konservative Gemüter mögen sich über Nacktheit auf der Bühne echauffieren. Shechter selbst sagt zur Rolle der Nacktheit in seinem Werk: »Darin liegt Reinheit.« Weit provokanter ist die Härte, mit der er mit jenem Land ins Gericht geht, das er im Jahr 1998 in verzweifeltem Zorn verließ und das ihn offenbar nach wie vor umtreibt: Israel.

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Derlei Vorkenntnis ist kein Muss, um seine Stücke zu verstehen oder sie gar bewerten zu können. Aber es schadet nicht zu wissen, wie sehr das Werk des 1975 in Jerusalem Geborenen geprägt ist von den eigenen Erfahrungen in den ersten 23 Jahren seines inzwischen 43-jährigen Lebens, um die unbequemen, ja radikalen Schlussfolgerungen dekodieren zu können, die er daraus zieht. Shechter setzt sie choreografisch mit vehementer Attacke um, indem er zum Beispiel zitiert und neu formuliert, was er einmal selbst gelernt und geliebt hat – den israelischen Volkstanz mit zwölf Jahren und später die höchst individuelle und unerhört freie zeitgenössische Gaga-Tanztechnik, die er beim »Tanz-Papst« Ohad Naharin verinnerlichte und für sich adaptierte.

In Shechters allerhärtestem Stück Political Mother (2010) tanzt der Mob Hora. Er tanzt nicht zur technicolorbunten israelischen Folklore der 50er-Jahre, sondern zu orientalischen Klängen. Die flotten Kibbuzniks in kurzen Hosen mit dem Gewehr in der Hand sind zum durch und durch verrohten Haufen mutiert. Er wolle es ungeschönt zeigen, das seiner Ansicht nach Gute, das Schlechte, das Hässliche, sagte Shechter einmal in einem Interview. In der Konsequenz zieht sich in Political Mother quer über die Bühne der Satz: »Where there is pressure, there is folk dance.«

Sein neues Stück arbeitet nicht mit dem Vorschlaghammer, sondern widmet sich den melancholischen Momenten in Israels Geschichte.

Shechters These: Volkstanz wird instrumentalisiert als identitätsstiftendes Mittel für die Masse. Man mag – je nach politischer Orientierung – davon halten, was man will: Gänsehaut überfällt das Publikum beim Betrachten des kollektiven Hora-Tanzes in jedem Fall. Eine Variation davon präsentiert Shechter nun auch in seinem jüngsten Coup, seinem karnevalesken Totentanz Grand Finale für zehn Tänzerinnen und Tänzer sowie sechs Live-Musiker.

Das Stück arbeitet im Gegensatz zu Political Mother nicht ausschließlich mit dem Vorschlaghammer, sondern widmet sich reichlich den zarten, den wehen, den melancholischen Momenten in der Geschichte Israels, wie sie Shechter in fast allen Stücken mitdenkt. Wie immer ist die Bühne schwarz. Ganz langsam schält sich ein Schemen aus dem diffusen Dunkel, der alsbald leblos vor einer der beweglichen Kulissenwände niedersinkt. Er ist der erste der zahllosen Bühnentoten, die der Choreograf in kunstvollen Paartänzen als Schlenkerpuppen in die Arme ihrer Partner legt oder über den Tanzboden schleifen lässt.

ISRAEL Grand Finale, mit dem Shechter und seine Dance Company demnächst auch nach Berlin, Wiesbaden und Recklinghausen zu den Ruhrfestspielen kommen, ist ein dramatischer, expressionistischer, aber auch sarkastischer Totentanz. Das Stück beschreibt den kulturellen Zusammenprall in Israel in einem unaufhörlichen Taumel mitreißender Bilder. Am Ende tanzen einige Paare weiter, klaustrophobisch zwischen zwei Wände gepresst, der Außenwelt trotzend – für Shechter ein Bild für den Alltag in dem kleinen Land, das Shechter genau aus diesem Grund verließ, um dann endlich im Jahr 2002 in London seine Wahlheimat zu finden.

»Israel ist so klein, man wird auf Schritt und Tritt beobachtet – wie in einem Kibbuz«, sagt Shechter.

Für ihn sei das damals ein Befreiungsschlag gewesen, sagt Shechter im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. »Israel ist so klein, man wird auf Schritt und Tritt beobachtet – wie in einem Kibbuz.« Die Ermordung von Yitzhak Rabin 1995 habe ihn damals hilflos gemacht, wirkte als nachhaltiger Schock. »Ich stand nurmehr auf dem Schlauch, kam nicht mehr weiter in diesem aufgeheizten Klima, den extremen Stimmungsschwankungen zwischen Hoffnung und Verzweiflung«, beschreibt er seinen damaligen Zustand, bevor er Israel den Rücken kehrte.

Shechters Gefühle von damals finden sich wieder, variiert und immer wieder neu reflektiert, in all seinen Stücken für seine Kompanie. Aber es gibt auch Tanzbühnen wie die in Nürnberg mit Stücken von ihm im Repertoire, die allgemein menschliche Beziehungen zum Inhalt haben. Die Choreografie für das Musical Fiddler on the Roof am Broadway konzipierte er ebenfalls. In Grand Finale dagegen inszeniert er, was Israel in seinen Augen war und was daraus wurde, mit der gewohnten Attacke in perfekter Balance von Bild, Musik und Bewegung.

Tschaikowskys Ouvertüre 1812 zur Feier des Sieges Russlands über Napoleon, pompöses Waffengetümmel in Festtagsma-
nier, zieht sich leitmotivisch durchs Grand Finale, konterkariert von einem leibhaftigen Salon-Orchesterchen in Walzerseligkeit, in die dräuend Shechters Schlagzeugminimalismus fährt. Und ebendieses Salonorchester mutet stellenweise wiederum an wie eine Gruppe von Klezmorim, wie sie vor der Schoa durch die Hinterhöfe im Schtetl zog.

Laut und pulsierend: Shechter fordert seinem Publikum einiges ab.

Paartänze zu Franz Lehárs Refrain »Hab mich lieb« gehen unter in Kriegstänzen. Die sepiafarbene Salonkultur der 20er- und 30er-Jahre, festgehalten auf vergilbten Fotografien, zerkratzten Schellacks und in dürren Erinnerungen, importiert von heimwehkranken Einwanderern, versinkt in aschgrauem Wüstenstaub.

Alle Termine von Hofesh Shechter und seiner Dance Company:

www.hofesh.co.uk/scheduled-events

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Sehen. Hören. Hingehen.

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