Pädagogik

Das Leben ist ein Pastrami-Sandwich

»Lernen soll Spaß machen«: Lee Shulman im Mai auf dem Campus in Dahlem Foto: Mike Minehan

Die Frage, was einen guten Lehrer ausmache, beantwortet Lee Shulman mit einer Gegenfrage: »Ein guter Lehrer wofür?« Er müsste die Antwort eigentlich wissen. Schließlich ist Shulman seit Jahrzehnten eine Koryphäe auf dem Gebiet der Bildungsforschung. Zudem wirkt der rundliche Mann genau so, wie man sich einen guten Lehrer vorstellt: freundlich, geduldig, humorvoll und mit der Fähigkeit ausgestattet, Zusammenhänge anschaulich zu erklären – mit allerlei Beispielen, Metaphern und Anekdoten.

Und so stellt Shulman auch sofort einen Vergleich an: »Woran erkennt man einen guten Musiker? Es gibt keine allgemeingültige Definition dafür. Man muss zuerst wissen, welches Instrument er spielt. Spielt er in einem Philharmonieorchester oder in einer Jazzband? Genauso ist es mit Lehrern. Ein guter Lehrer hat ein tiefes Verständnis für das Fach, das er lehrt – seien es Sprachen oder Naturwissenschaften. Und er versteht es, seine Leidenschaft für sein Fach an seine Schüler weiterzugeben.«

Fachdidaktik Das ist im Grunde die Definition des Begriffs »pedagogical content knowledge« (meist mit »fachdidaktisches Wissen« übersetzt), den Shulman, damals Professor für Pädagogische Psychologie an der amerikanischen Stanford-Universität, 1986 in den wissenschaftlichen Diskurs einführte. Der Begriff besagt, dass der Inhalt (»content«) des Lehrstoffs und die verständliche pädagogische Vermittlung an die Schüler in der Ausbildung von Lehrern gleichrangig behandelt werden sollten. »Für mich war damals die Frage: Wie können wir die Kompetenzen, die gute Lehrer haben, definieren und systematisieren? Wie können wir fachliche Kenntnisse und pädagogisches Talent besser vereinen?«, erläutert Shulman.

Shulmans Gedanken wurden insbesondere in Deutschland aufgegriffen und weiterentwickelt, prägen bis heute das hiesige Lehramtsstudium mit seiner Betonung der Fachdidaktik und flossen unter anderem in die »Standards für die Lehrerausbildung« der Kultusministerkonferenz ein. Daher verlieh die Freie Universität Berlin Shulman im Mai die Ehrendoktorwürde für sein Lebenswerk. Gemeinsam mit seiner Frau Judith, mit der er seit mehr als 50 Jahren verheiratet ist, reiste Lee Shulman in die deutsche Hauptstadt, hielt bei der Gelegenheit gleich noch ein Seminar für Studenten der Pädagogik ab und nahm an einer Podiumsdiskussion zum Thema »Professionalisierung der Lehrerbildung« teil.

Deli Geboren wurde Lee Shulman 1938 in Chicago als einziger Sohn jüdischer Einwanderer. Seine Mutter kam aus Litauen, sein Vater aus Polen; die Eltern hatten sich in einer Fabrik für Herrenanzüge in Chicago kennengelernt, in der sie beide arbeiteten. Später eröffneten die Shulmans ihr eigenes Deli. Dort stand der zwölfjährige Lee hinter der Theke und verkaufte die in der gesamten Nachbarschaft beliebten Pastrami-Sandwiches, die ihm zur Metapher für ein gelungenes Leben wurden: »Gut durchwachsen«, sagt er schmunzelnd. »Fleisch und Fett sind untrennbar miteinander verwoben, genauso wie Gutes und Schlechtes im Leben untrennbar miteinander verwoben sind.«

Als Teenager besuchte Shulman fünf Jahre lang eine Jeschiwa, 15 Stunden am Tag studierte er dort Talmud und Tora. Den Wunsch, Rabbiner zu werden, gab er jedoch zugunsten einer akademischen Karriere auf – mithilfe eines Stipendiums studierte er Philosophie und Psychologie, machte mit 24 seinen Doktor. »Dennoch hat die Art und Weise, wie ich an der Jeschiwa gelernt habe, mein Denken stark geformt«, erinnert er sich. »Viele meiner Ansichten über das Lernen sind tief in der jüdischen Tradition verwurzelt.« Dazu gehört für ihn – neben dem Denken in Analogien und Gleichnissen – das genaue Lesen eines Texts, das Erkennen von Widersprüchen und die Notwendigkeit der Interpretation.

»Einer der Aspekte der jüdischen Tradition ist, dass die heiligen Texte inhärent mehrdeutig sind. Und problematisch. So bildet sich kritisches Denken aus.« Die Interpretation eines Textes sei niemals abgeschlossen, erklärt Shulman. Es gebe auch nicht die eine »wahre« Bedeutung, jede Generation habe die Pflicht, eine neue Schicht der Interpretation hinzuzufügen.

Trotz des Bezuges zur jüdischen Textexegese sind Shulmans wissenschaftliche Beiträge zur pädagogischen Fachdiskussion völlig säkular – und doch betont er, wie wichtig es sei, die Rolle religiöser Traditionen im Schulunterricht anzuerkennen, schließlich besuche die Mehrheit aller Schüler auf der ganzen Welt konfessionelle Schulen. Eines ist für ihn aber noch viel wichtiger: »Lernen soll Spaß machen.« Und ebenso wichtig ist Humor. Wäre er kein Wissenschaftler, sagte er einmal, würde er auch gern für Comedyserien wie Seinfeld oder Saturday Night Live schreiben.

Rastlos Stattdessen schrieb Shulman zahllose Aufsätze zu pädagogischen Themen – sein Text »Von einer Sache etwas verstehen: Wissensentwicklung bei Lehrern« ist Pflichtlektüre für Lehramtsstudenten in Deutschland –, hält Vorträge vor Lehrern und Laien und war von 1997 bis 2008 Präsident der Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching.

Inzwischen ist Shulman pensioniert, sein Büro an der Stanford-Universität hat er aber immer noch. Auch Seminare und Vorlesungen hält er nach wie vor; zwar nicht mehr regelmäßig, aber immer wieder. Denn die Leidenschaft fürs Lernen und Lehren ist eben keine Altersfrage.

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  24.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  23.04.2025

27. Januar

Der unbekannte Held von Auschwitz

Der »Berufsverbrecher« Otto Küsel rettete Hunderten das Leben. In Polen ist er ein Held, in Deutschland fast unbekannt. Das will Sebastian Christ mit einem Buch ändern, für das er 20 Jahre lang recherchiert hat

 23.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 23.04.2025

Fernsehen

Ungeschminkte Innenansichten in den NS-Alltag

Lange lag der Fokus der NS-Aufarbeitung auf den Intensivtätern in Staat und Militär. Doch auch viele einfache Menschen folgten der Nazi-Ideologie teils begeistert, wie eine vierteilige ARD-Dokureihe eindrucksvoll zeigt

von Manfred Riepe  23.04.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Hochzeitsnächte und der Vorhang des Vergessens

von Margalit Edelstein  22.04.2025

Graphic Novel

Therese Giehse in fünf Akten

Barbara Yelins Comic-Biografie der Schauspielerin und Kabarettistin

von Michael Schleicher  22.04.2025

TV-Tipp

Arte-Doku über Emilie Schindler - Nicht nur »die Frau von«

Emilie und Oskar Schindler setzten sich für ihre jüdischen Arbeiter ein. Am 23. April läuft auf Arte eine Doku, die Emilie in den Mittelpunkt rückt

von Leticia Witte  22.04.2025

Kino

Film zu SS-Plantage »Kräutergarten« kommt ins Kino

Der Ort ist fast vergessen: Häftlinge im KZ Dachau erlitten dort Furchtbares. Nun erinnert der Dokumentarfilm »Ein stummer Hund will ich nicht sein« daran

 22.04.2025