Die Frage, was einen guten Lehrer ausmache, beantwortet Lee Shulman mit einer Gegenfrage: »Ein guter Lehrer wofür?« Er müsste die Antwort eigentlich wissen. Schließlich ist Shulman seit Jahrzehnten eine Koryphäe auf dem Gebiet der Bildungsforschung. Zudem wirkt der rundliche Mann genau so, wie man sich einen guten Lehrer vorstellt: freundlich, geduldig, humorvoll und mit der Fähigkeit ausgestattet, Zusammenhänge anschaulich zu erklären – mit allerlei Beispielen, Metaphern und Anekdoten.
Und so stellt Shulman auch sofort einen Vergleich an: »Woran erkennt man einen guten Musiker? Es gibt keine allgemeingültige Definition dafür. Man muss zuerst wissen, welches Instrument er spielt. Spielt er in einem Philharmonieorchester oder in einer Jazzband? Genauso ist es mit Lehrern. Ein guter Lehrer hat ein tiefes Verständnis für das Fach, das er lehrt – seien es Sprachen oder Naturwissenschaften. Und er versteht es, seine Leidenschaft für sein Fach an seine Schüler weiterzugeben.«
Fachdidaktik Das ist im Grunde die Definition des Begriffs »pedagogical content knowledge« (meist mit »fachdidaktisches Wissen« übersetzt), den Shulman, damals Professor für Pädagogische Psychologie an der amerikanischen Stanford-Universität, 1986 in den wissenschaftlichen Diskurs einführte. Der Begriff besagt, dass der Inhalt (»content«) des Lehrstoffs und die verständliche pädagogische Vermittlung an die Schüler in der Ausbildung von Lehrern gleichrangig behandelt werden sollten. »Für mich war damals die Frage: Wie können wir die Kompetenzen, die gute Lehrer haben, definieren und systematisieren? Wie können wir fachliche Kenntnisse und pädagogisches Talent besser vereinen?«, erläutert Shulman.
Shulmans Gedanken wurden insbesondere in Deutschland aufgegriffen und weiterentwickelt, prägen bis heute das hiesige Lehramtsstudium mit seiner Betonung der Fachdidaktik und flossen unter anderem in die »Standards für die Lehrerausbildung« der Kultusministerkonferenz ein. Daher verlieh die Freie Universität Berlin Shulman im Mai die Ehrendoktorwürde für sein Lebenswerk. Gemeinsam mit seiner Frau Judith, mit der er seit mehr als 50 Jahren verheiratet ist, reiste Lee Shulman in die deutsche Hauptstadt, hielt bei der Gelegenheit gleich noch ein Seminar für Studenten der Pädagogik ab und nahm an einer Podiumsdiskussion zum Thema »Professionalisierung der Lehrerbildung« teil.
Deli Geboren wurde Lee Shulman 1938 in Chicago als einziger Sohn jüdischer Einwanderer. Seine Mutter kam aus Litauen, sein Vater aus Polen; die Eltern hatten sich in einer Fabrik für Herrenanzüge in Chicago kennengelernt, in der sie beide arbeiteten. Später eröffneten die Shulmans ihr eigenes Deli. Dort stand der zwölfjährige Lee hinter der Theke und verkaufte die in der gesamten Nachbarschaft beliebten Pastrami-Sandwiches, die ihm zur Metapher für ein gelungenes Leben wurden: »Gut durchwachsen«, sagt er schmunzelnd. »Fleisch und Fett sind untrennbar miteinander verwoben, genauso wie Gutes und Schlechtes im Leben untrennbar miteinander verwoben sind.«
Als Teenager besuchte Shulman fünf Jahre lang eine Jeschiwa, 15 Stunden am Tag studierte er dort Talmud und Tora. Den Wunsch, Rabbiner zu werden, gab er jedoch zugunsten einer akademischen Karriere auf – mithilfe eines Stipendiums studierte er Philosophie und Psychologie, machte mit 24 seinen Doktor. »Dennoch hat die Art und Weise, wie ich an der Jeschiwa gelernt habe, mein Denken stark geformt«, erinnert er sich. »Viele meiner Ansichten über das Lernen sind tief in der jüdischen Tradition verwurzelt.« Dazu gehört für ihn – neben dem Denken in Analogien und Gleichnissen – das genaue Lesen eines Texts, das Erkennen von Widersprüchen und die Notwendigkeit der Interpretation.
»Einer der Aspekte der jüdischen Tradition ist, dass die heiligen Texte inhärent mehrdeutig sind. Und problematisch. So bildet sich kritisches Denken aus.« Die Interpretation eines Textes sei niemals abgeschlossen, erklärt Shulman. Es gebe auch nicht die eine »wahre« Bedeutung, jede Generation habe die Pflicht, eine neue Schicht der Interpretation hinzuzufügen.
Trotz des Bezuges zur jüdischen Textexegese sind Shulmans wissenschaftliche Beiträge zur pädagogischen Fachdiskussion völlig säkular – und doch betont er, wie wichtig es sei, die Rolle religiöser Traditionen im Schulunterricht anzuerkennen, schließlich besuche die Mehrheit aller Schüler auf der ganzen Welt konfessionelle Schulen. Eines ist für ihn aber noch viel wichtiger: »Lernen soll Spaß machen.« Und ebenso wichtig ist Humor. Wäre er kein Wissenschaftler, sagte er einmal, würde er auch gern für Comedyserien wie Seinfeld oder Saturday Night Live schreiben.
Rastlos Stattdessen schrieb Shulman zahllose Aufsätze zu pädagogischen Themen – sein Text »Von einer Sache etwas verstehen: Wissensentwicklung bei Lehrern« ist Pflichtlektüre für Lehramtsstudenten in Deutschland –, hält Vorträge vor Lehrern und Laien und war von 1997 bis 2008 Präsident der Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching.
Inzwischen ist Shulman pensioniert, sein Büro an der Stanford-Universität hat er aber immer noch. Auch Seminare und Vorlesungen hält er nach wie vor; zwar nicht mehr regelmäßig, aber immer wieder. Denn die Leidenschaft fürs Lernen und Lehren ist eben keine Altersfrage.