Man muss Jakob Augstein dankbar sein. Selten hat jemand derart konzise auf den Punkt gebracht, was Zivilisation von Barbarei unterscheidet: »Leben ist nie der höchste oder gar der einzige Wert einer Gesellschaft – und unserer schon gar nicht«, verbreitete der »Spiegel«-Erbe am Sonntag auf Twitter. Und auf Nachfrage, was denn wichtiger sein könnte, antwortete er: »Kultur, Glück, Gemeinschaft, Freiheit zum Beispiel …«
Tradition Das hat Tradition, vor allem deutsche Tradition – von Friedrich dem Großen, der seinen fliehenden Soldaten bei der Schlacht von Kolin 1757 wütend zurief: »Ihr verfluchten Racker, wollt ihr denn ewig leben«, bis zu Schillers oft und gern nachgeplappertem »Das Leben ist der Güter höchstes nicht«.
Marcel Reich-Ranicki hat das einmal als eines der für ihn törichtesten Klassikerzitate bezeichnet. »Vielleicht sollten wir dieses Wort aus der Braut von Messina kürzen: ›Das Leben ist der Güter höchstes‹«, schrieb er 2005 in der Frankfurter Allgemeinen.
Damit hatte Reich-Ranicki den Kernsatz der jüdischen Ethik paraphrasiert. Pikuach Nefesch – Leben retten – ist im Judentum das oberste Gebot. »Alle anderen der 613 Mizwot sind zweitrangig, wenn sie in Konkurrenz zur Heiligkeit des Lebens stehen«, hat es der einstige israelische Oberrabbiner Yisrael Meir Lau einmal formuliert.
Charedim In diesem Punkt werden ihm nicht nur seine sonst so zerstrittenen Kolleginnen und Kollegen aller Richtungen zustimmen – von liberal bis ultraorthodox. Auch nichtgläubige Juden haben diese Maxime verinnerlicht. (Dass manche Juden, etwa Charedim in Bnei Brak, sich aktuell nicht an sie halten, steht auf einem anderen Blatt.)
Der Gott Israels untersagte Abraham das Menschenopfer, das dieser ihm zu bringen bereit war. Das war ein zivilisatorischer Quantensprung. Aber Zivilisation ist ein mühsamer Prozess, der dem Individuum Verzicht und Selbstkontrolle abverlangt. Das unter anderem ist mit dem »Joch der Tora« gemeint, dem sich das jüdische Volk beugt.
Das Ausagieren der Triebe dagegen macht mehr Spaß, vom Hedonismus der alten Griechen bis zu Augsteins »Kultur, Glück, Gemeinschaft, Freiheit«. Die aktuelle Diskussion über den richtigen Weg zur Eindämmung von Covid-19 ist nicht nur ein pragmatischer Streit um die besten praktischen Maßnahmen.
Zivilisation Im Hintergrund steht auch unausgesprochen die Frage nach dem Wert des Lebens jedes Einzelnen. Das Judentum hat darauf eine eindeutige Antwort. Unsere Zivilisation hat zumindest von ihrem Anspruch her dieselbe. Doch der Lack der Zivilisation ist dünn und fängt gerade an, dicke Risse zu bekommen. »Opfert die Schwachen!«, forderte in den USA ein Teilnehmer bei einer Anti-Lockdown-Demo auf einem Plakat.
Jakob Augstein drückt es gewählter aus: »Leben ist nie der höchste oder gar der einzige Wert einer Gesellschaft.« Er meint mutmaßlich nicht das eigene.