Frau Hayman, im deutschen Fernsehen gab es viele Jahre lang eine Sendung, die sich mit berühmten Vorfahren befasst. Sie hieß »Ich trage einen großen Namen«. Und in dieser Sendung wurde dem Gast immer die Frage gestellt, die ich mir für unser Gespräch einmal kurz borge: Glauben Sie, Ihrer Vorfahrin zu ähneln – Fanny Mendelssohn?
Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen. Sebastian Hensel, Fannys Sohn, der die Familiengeschichte aufgeschrieben hat, notierte, dass er es – gemessen an den Maßstäben der Mendelssohns – nicht so weit gebracht habe. Er war zwar erfolgreicher Hotelier, er war Maler, Schriftsteller, und er schrieb viel über seine Mutter, kein einziges Wort übrigens über sie als Musikerin. Kein einziges Wort!
Was schrieb er denn?
Dass sie sehr lebhaft gewesen sei. Unheimlich klug. Äußerst liebevoll. Sie hasste Partys und Förmlichkeit, mochte es nicht, Hüte zu tragen, weil sich die Schleier immer in ihrer Brille verfingen. Sie konnte Menschen, die überheblich oder hochnäsig waren, nicht leiden. Sie hatte sehr starke Gefühle Menschen gegenüber und war ihren Freunden gegenüber ein Leben lang loyal. Ich dachte: Sie klingt fantastisch. Ich kann mich schon ein wenig in ihr wiedererkennen. Ich habe nicht ihr außergewöhnliches musikalisches Genie – aber ich hätte es gern. Sie war so ein lebensfroher Mensch, nach dem, wie ihr Sohn sie beschrieb. Sie schien so vollkommen modern zu sein und witzig, und sie hatte eine ziemlich spitze Zunge. Wenn sie der Meinung war, dass sich jemand nicht richtig anstrengte, dann machte sie daraus kein Hehl.
Sie lästerte also ein bisschen?
Nun, sie sagte Dinge über Chopin, über Paganini oder über Berlioz.
Welche denn?
Als Berlioz in Rom war, half sie ihrer Schwester mit dem neugeborenen Baby. Sie sagte: »Ich interessiere mich sehr für die Musik, die Babys machen, und ich glaube, dass Monsieur Berlioz, wenn er 50 Orgeln auf einer Bühne aufstellen und neben jede ein weinendes Baby legen würde, eine sehr schöne Musik machen würde. Sie hatte also diese Art, sich über Menschen und ihre Musik lustig zu machen.
Passiv-aggressiv, würde man heute sagen.
Sie war ziemlich kritisch gegenüber so ziemlich jedem – ausgenommen von Bach, Beethoven und Felix.
Fanny Mendelssohn war Berlinerin. Wir sitzen gerade in der Mendelssohn-Remise. Der Ort, an dem sie aufgewachsen ist, ist gleich um die Ecke im heutigen Kreuzberg. Wie wäre sie wohl heute?
Ich habe viel über den Unterschied zwischen Fanny und ihrem Mann nachgedacht. Er war ziemlich konservativ und förmlich, völlig unmusikalisch, konnte keinen Ton halten. Es gab sogar den Witz, dass Felix einmal ein Musikstück für die Familie schrieb, das sie aufführen sollten. Wilhelm hatte nur eine Note zu singen, und genau die sang er verstimmt. Aber er hatte nicht diese freie, leichte Art der Mendelssohns. Dieses »Boho«, dieses natürliche Vertrauen. Sie hatte das Selbstvertrauen, mit Geld in eine sehr mächtige und einflussreiche Familie hineingeboren zu sein. Sie war sehr talentiert und sehr gebildet. Ihre Großtante war eine bedeutende Salonière mit unglaublichen Partys. Tatsächlich durfte Wilhelm Fanny erst heiraten, als er es sich leisten konnte. Es gelang ihm, eine Stelle als Maler für den König zu bekommen. Zwischendurch versuchte er auch, seine Gemälde zu verkaufen. Einmal soll er nach England gereist sein, und auf diese Reise nahm er einige seiner Bilder mit, um die englische Königin Victoria und ihren Gatten, Prinz Albert, zu treffen. Es gelang ihm, für eines seiner Gemälde einen Smaragdring vom Königshaus zu bekommen. Er brachte ihn Fanny, und sie sagte: »Was in aller Welt denken Sie, wer Sie sind? Wie kann ich Klavier spielen, wenn ich diesen lächerlichen Klumpen Blödsinn trage?«
Warum wurde Fanny nie diese Aufmerksamkeit wie ihrem Bruder Felix zuteil?
Ich glaube, das ist das größte Geheimnis der Beziehung von Fanny und Felix, denn sie waren ihr ganzes Leben zusammen. Jeder war der schärfste Kritiker des anderen, und beide hatte keine Skrupel, sich zu sagen, dass etwas nicht gut war. Der Unterschied zwischen ihnen war allerdings, dass Fanny durch seine Kommentare ihr Selbstvertrauen völlig verloren hatte – ihm war das egal. Die gängige Erklärung ist, dass die Familie, die ja zum Christentum übergetreten war, eine sehr schwache soziale Position hatte. Sie waren zwar sehr wohlhabend, waren sehr prominent und sichtbar. Aber es wäre sehr skandalös gewesen, wenn Fanny als Frau in der Öffentlichkeit Karriere gemacht und damit auch noch Geld verdient hätte. Ich glaube, es ist ein großes Rätsel.
Warum galt es damals als unerhört für eine Frau, Musik öffentlich aufzuführen?
Es war ja nicht irgendeine Frau. Clara Schumann zum Beispiel, die eine lange Karriere als Musikerin hatte, stammte aus einer unteren Schicht. Ihr Vater war Lehrer. Sie galt als kleinbürgerlich. Die Mendelssohns strebten danach, aristokratisch zu werden, um eine neue Dynastie zu gründen. Und das war der Unterschied: Eine Frau aus dieser Klasse trat in der Öffentlichkeit zuerst als Dame und dann als »die Schwester von …« auf. Aus heutiger Sicht ist es schwierig, sich das vorzustellen.
In Ihrem Dokumentarfilm »Fanny –The Other Mendelssohn« geht es um die Ostersonate, die eigentlich von Fanny komponiert wurde, viele Jahre lang ihrem Bruder Felix zugeschrieben wurde und die 150 Jahre lang verschwunden war. Was ist es für ein Gefühl, sie zu hören?
Es ist irgendwie außergewöhnlich. Ich erinnere mich an das erste Mal, es muss 2016 gewesen sein, als ich Éric Heidsieck traf, den Pianisten, der das Stück 1972 aufgenommen hatte. Ich weiß noch ganz genau, wie ich auf dem kleinen Platz um die Ecke seines Hauses in Paris saß, diese Musik hörte und dachte: Das ist wirklich außergewöhnlich. So etwas habe ich noch nie gehört. Es gibt so viel Abwechslung zwischen den vier Sätzen, und es gibt so viel Wut und Zorn, aber auch Leidenschaft und Wildheit und Mut und Kühnheit. Fanny legte ihre Gefühle in das Klavierspiel. Für sie war das Klavier eine Art Ventil, denn Frauen durften damals nicht böse werden. Es war unsittlich, zu glücklich oder zu traurig sein. Weinen, schreien, sich körperlich betätigen – alles das durften Frauen in der Öffentlichkeit nicht. Als die Familie in die Schweiz fuhr, war Fanny 16 Jahre alt. Die Männer gingen wandern, sie musste zurückbleiben. Stellen Sie sich diese Art von körperlicher Einschränkung vor: Mädchen und Frauen wurden in diese engen Mieder gequetscht; sie trugen schwere Unterröcke, lange Überröcke, alberne Schuhe.
Das Klavier war also ihr Ausdauergerät.
Ja, zumal die Klaviere einen Metallrahmen bekamen und man sich so richtig ins Zeug legen konnte. Sie konnte ihre ganze körperliche Energie, ihre Leidenschaft in dieses Instrument stecken. Das Klavier war ihre Rettung. All das höre ich in der Ostersonate. Ihre Gefühle, ihre religiöse Ehrfurcht, die Verspieltheit des Scherzos und die Leidenschaft des ersten und des vierten Satzes. Wissen Sie, sie war 22 – es war das Jahr nach Beethovens Tod –, und damals war man der Meinung, dass Beethoven das letzte Wort in Sachen Klaviersonaten gesprochen habe. Dabei sind die späten Beethoven-Sonaten wirklich seltsam und außerordentlich bizarr. Fanny kam daher und sagte sich: »Ich werde eine Klaviersonate schreiben. Es ist mir egal, ich bin 22 Jahre alt, der größte Komponist, der je gelebt hat, ist gerade gestorben. Ich werde eine neue Sonate machen.
Wann sind Sie auf das musikalische Erbe der Familie Mendelssohn aufmerksam geworden?
Nun, wenn man wie ich ein Kind von sieben oder acht Jahren ist, in die Schule geht und sich etwas seltsam fühlt, weil man diesen verrückten deutschen Vater hat, der seltsames Essen isst und einen starken Akzent hat, und diese sehr seltsame Mutter aus Yorkshire, die ständig gute Dinge tut und eine Quäkerin ist, dann sehnt man sich danach, einfach nur normal zu sein. Ein paar alte, tote Deutsche als Verwandte zu haben, hat nicht wirklich dabei geholfen. Wenn ich mit den Beatles oder den Rolling Stones verwandt gewesen wäre, wäre das etwas anderes gewesen. Kurzum: Ich habe mich lange Zeit damit nicht wirklich auseinandergesetzt. Die Familien hatten untereinander ein schwieriges Verhältnis. Aus einer Laune heraus flog ich 2005 zu einem Familientreffen nach Vancouver und hörte viele Geschichten. Ich hatte allerdings schon als Teenager die eine oder andere Geschichte zu Ohren bekommen. Von meiner Großmutter in Heidelberg, über ihre Schwester oder diese Porzellanaffen – das war der Auslöser für meinen ersten Film über die Familie. Während der Dreharbeiten erfuhr ich dann vieles mehr über Fanny.
Sind Sie auf sehr viel Überraschendes gestoßen?
Es gab diese Feministinnen, die Fannys Geschichte an die Öffentlichkeit brachten, indem sie die Archive, in denen alle ihre Unterlagen lagen, regelrecht belagerten. Ich meine, es war wirklich schwierig, da hineinzukommen. Ich erfuhr, dass einige dieser Frauen noch lebten und daran interessiert waren, ihre Geschichten zu erzählen. Im Zuge dessen entdeckte ich die Geschichte der Ostersonate – es war eine echte Detektivarbeit, das Werk als das von Fanny und nicht von Felix zu identifizieren.
Wie würden Sie den Moment beschreiben, als Sie das Manuskript zum ersten Mal gesehen haben?
Es war … es war ziemlich aufregend und absolut außergewöhnlich. Papier war damals teuer, und bei einem anderen Manuskript eines anderen Liedes sah ich, wie sehr sie diesen schwer zu bekommenden Bogen Papier komplett ausgenutzt hatte, um alles, wirklich alles darauf unterzubringen: Zum Ende hin waren alle Takte ineinander gequetscht. Man kann die Notizen kaum sehen, weil sie so sehr darauf bedacht war, alles aufzuschreiben, dabei hatte sie nur dieses eine Stück Papier. Ich denke, wenn sich die Stimmung des Komponisten anhand des Manuskripts erkennen lässt, dann ist das einfach wunderbar.
Wenn Sie heute die Möglichkeit hätten, mit Fanny zu sprechen, was würden Sie sie fragen? Oder was würden Sie ihr gern zeigen?
Ich würde ihr sagen, dass ich sie an all diese verschiedenen Orte mitnehmen konnte, an die sie selbst nie reisen konnte – und sie hatte ein richtiges Verlangen nach dem Reisen. Sie wollte nach ihrem Aufenthalt in Italien nicht zurück ins kalte, nasse Deutschland. Sie wollte weiterziehen und weiterreisen. In einem Brief an eine ihrer Cousinen schrieb sie – und es klingt fast ernüchternd: »Wir Deutschen müssen immer das Vernünftige tun. Wir Deutschen müssen immer zurückkommen. Wir müssen immer nachdenken und uns Sorgen machen.« Es war diese absolut tiefe Sehnsucht, eine Frau zu sein, die Abenteuer erlebte und ihrem Geist und ihrer Freude folgte und überallhin reiste. Und, wissen Sie, das konnte sie nie. Es ist also irgendwie bittersüß, dass ich sie nach New York und nach Sevilla und nach Valencia und nach Berlin mitnehmen konnte. Ich wünschte, sie wäre in der Lage gewesen, diese Reisen in ihrem Leben zu machen. Und ich wünschte, sie hätte sich erlauben können, sie selbst zu sein und nicht immer ihre Pflicht als gute Tochter zu erfüllen.
Mit der Londoner Filmemacherin sprach Katrin Richter.