Mein Vater, der Arzt Helmut Ernst Kuhn, verschwand 1977 an Bord der Segeljacht »Nordstern IV« in der Karibik unter ungeklärten Umständen. Ich war damals 14 Jahre alt und hätte mitfahren sollen, Mutter verbot es kurzerhand. Am 19. März verließ das Schiff English Harbour in Antigua, sechs Wochen später hätte es Lissabon, Portugal, erreichen müssen. Die Jacht kam nie an.
Mit an Bord waren weitere fünf Personen: der Skipper Manfred Lehnen, ein Metzgermeister aus Düsseldorf, Christine Kump, Schweizer Chemikerin und dessen Geliebte, der Kölner Arbeitsrichter Jürgen Groß, der Nürnberger Ingenieur Hugo Rösel und die Medizinstudentin Ulrike Müller. Drei Jahre später wurden sie für tot erklärt. Alle – bis auf Lehnen und Kump. Sie stehen bis heute bei der Düsseldorfer Kripo unter dem dringenden Tatverdacht, die Chartergäste umgebracht zu haben – oder an deren Tötung beteiligt gewesen zu sein.
Zwei Jahre nach dem Verschwinden des Schiffes erhielt ich auf dem Pausenhof eine Postkarte aus der Karibik. Sie war an meine Schule zugestellt worden und stammte von der zweiten Frau meines Vaters und Mutter meines Bruders: »Dein Vater lebt. Wir sind dicht auf seinen Spuren!« Zusammen mit der Freundin des Richters stellte sie auf den Inseln der Kleinen Antillen noch immer eigene Recherchen an.
Ich ahnte um diese Dunkelheit und die Abgründe
Es ist ein eigenartiges Trauma, das ein solches Verschwinden hinterlässt. Kein Todeszeitpunkt, keine konkrete Ursache, kein Grab. Keine Antworten. Nur Rätsel. In der Schule lasen wir Franz Kafka. Ich habe den Autor damals instinktiv abgelehnt: Ich ahnte um diese Dunkelheit und die Abgründe, um die Rätsel und die Qualen. Davon hatte ich selbst genug.
Lange war ich mit meinem eigenen Überleben beschäftigt. Sicher hat das ungelöste Rätsel meine Berufswahl beeinflusst. In den späten 90er -Jahren beschloss ich, der Sache als Journalist auf den Grund zu gehen. Ich besorgte mir die verstaubte, 1000-seitige Akte der Kripo Düsseldorf. Suchte »Bild«- und »Stern«-Reporter auf, die damals über den Fall geschrieben hatten. Besuchte alle Hinterbliebenen der Verschwundenen.
Hatten sich die mutmaßlich Überlebenden Lehnen und Kump doch einmal bei ihren inzwischen erwachsenen Kindern gemeldet? Was ich dabei erlebte, war so abgründig wie unerträglich. Die Katastrophe gebar neue Katastrophen. Die Mutter der Studentin hatte sich ertränkt. Die Frau des Skippers lebte im Wahn, die Söhne waren in der Schule die »Kinder des Mörders« (»Bild«) gewesen. Eine Tochter der Chemikerin ließ sich den Uterus aus dem Leib schneiden, weil sie glaubte, von der Mutter verstoßen worden zu sein.
Ich suchte zusammen mit Charly, einem Düsseldorfer Kommissar und Segler, nach Hinweisen in der Karibik. Ich stellte mir Fragen: Was führte die Leute auf dieses Schiff? Warum ging mein Vater auf diese gefährliche Reise – mein Bruder war gerade drei Monate alt? Gab es eine Katastrophe vor der Katastrophe? Wie konnte ich mich mit meinem Vater auseinandersetzen?
In diesen Jahren trieben mich die Fragen unweigerlich in Kafkas Arme
In diesen Jahren trieben mich die Fragen unweigerlich in Kafkas Arme. Und ich verschlang ihn. In seinen Büchern fand ich diese Fragen, sah das Ringen mit den Mysterien, und ich verstand, warum ich ihn als Jugendlicher gemieden hatte. Ich stieß auf seinen Brief an den Vater: die fiktive Auseinandersetzung mit dem übermächtigen, unnahbaren Vater als literarisches Mittel, nie abgeschickt. Sie führte Kafka – in meinen Augen – zur Verwandlung, weil dieser ihn einmal als Kakerlake bezeichnet hatte.
2002 erschien mein erster Roman, Nordstern, beim Verlag marebuch. Ich konnte das Rätsel lösen. Soweit möglich. Ich konnte meinen Vater verstehen, soweit das geht. Das Schreiben half mir. Es hatte etwas Kathartisches. Einer meiner Psychologen sagte einmal: Du bist barfuß durch dein eigenes Trauma gelatscht. Ich glaube, Franz Kafka tat das sein Leben lang.
Helmut Kuhn: »Nordstern«, marebuchverlag, Hamburg 2002, 256 S., 19,90 €, antiquarisch erhältlich.