Die Religion hat für Gegenwartskünstler eine hohe Relevanz, befindet der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann. Im Interview erklärt er auch, wo für ihn Antisemitismus beginnt und wie entsprechende Grenzüberschreitungen wie bei der Documenta vermieden werden können.
Herr Zimmermann, seit 27 Jahren sind Sie als Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates so etwas wie der intellektuelle Leuchtturm der Dichter, Denker und Dancer. Welchen Stellenwert hat das Thema Religion für Kulturleute von heute? Beobachten Sie ein Verdunsten des religiösen Wissens oder einen Anstieg bei Künstlern?
Ich beobachte eine Zunahme an Wissen. Es gibt schließlich einen Drang nach Identität. Wer sind wir, welchen Weg bestreiten wir? Viele Künstler nehmen religiöse Praktiken stärker hinein in ihre eigene Arbeit. Das liegt wohl auch daran, dass Religion in diesen komplizierten Zeiten so etwas wie ein Tunnel sein kann, der einen durchführt. Ich rede vom ganzen religiösen Spektrum. Dazu kommt: Ohne religiöse Kenntnisse im heutigen Kulturbetrieb erfolgreich zu sein, halte ich fast für unmöglich. Man muss die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Weltreligionen kennen, um etwa die Debatten rund um das Thema Antisemitismus verstehen und einordnen zu können.
Welche Rolle spielen die christliche Kirchen heute noch als Auftraggeber für Kunstwerke? Will man sie als Auftraggeber überhaupt haben?
Die Kirche spielt weiterhin eine bedeutende Rolle als Auftraggeberin, zumal sie den Künstlern heute viele Freiheiten lässt. Ich würde sogar sagen, die Kirche sichert manchen Künstlern das dauerhafte Überleben. Der Traum ist doch heute nicht mehr, in irgendeinem Museum auszustellen. Das bekommt man schon hin, wenn man in einer gewissen Liga spielt. Der Traum ist, wie Neo Rauch oder Gerhard Richter es getan haben: ein Kirchenfenster zu machen. Denn das bleibt. Wo gibt es eine solche Sicherheit noch in der heutigen Gesellschaft?
Sie selbst sind Protestant mit Interesse an Judentum, Islam und Katholizismus. Welche dieser Religionen prägt derzeit das künstlerische Schaffen in Deutschland am stärksten?
Eindeutig das Judentum. Spätestens seit dem Überfall der Hamas auf Israel ist die Frage »wie hältst du es mit dem Judentum und wie hältst du es mit Israel« zur Gretchenfrage des deutschen Kulturbetriebs geworden. Darf man die israelische Regierung wie jede andere Regierung kritisieren? Ab welchem Punkt wird berechtigte Kritik zu Antisemitismus?
Wo sehen Sie den Punkt?
Zimmermann: Ich sehe ihn dort, wo Kritik an Israel mit Kritik am Juden gleichgesetzt wird. Wo diese Gleichsetzung gemacht wird, ist die Grenze zum Antisemitismus schnell überschritten.
Schon bei der Documenta 15 im Jahr 2022 sorgten antisemitische Motive für Entsetzen. Wie lassen sich solche Grenzüberschreitungen zukünftig verhindern? Es gibt schließlich das Recht auf künstlerische Freiheit.
Kunstfreiheit ist nicht grenzenlos. Der Artikel 1 des Grundgesetzes »Die Würde des Menschen ist unantastbar« steht über dem Artikel 5,3 »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei«. Als Deutscher Kulturrat ist es unsere zentrale Aufgabe, für die Verteidigung dieser Werte zu kämpfen. Kunstfreiheit ist wichtig, aber es kann nicht sein, dass man in ihrem Schutze andere schützenswerte Güter beiseiteschiebt.
Die Aufarbeitung des Kolonialismus ist ein wichtiges Thema der Gegenwart. Sie haben, wie man in Ihrem Buch »Mein kulturpolitisches Pflichtenheft« lesen kann, bereits vor fünf Jahren angeregt, die Kirchen aufgrund ihrer Missionserfahrungen in die Aufarbeitung mit einzubeziehen. Was tut sich da?
Auch die Kirchen besitzen noch Artefakte aus der Kolonialzeit, und zwar gar nicht so wenige. Im weltlichen Bereich sind wir mit der Erfassung schon weiter, wenn auch noch nicht so weit, wie wir sein müssten. Das muss weitergehen, weil das Thema längst noch nicht abgeschlossen ist. Wir haben auch keinen angemessenen Überblick über die während des Faschismus gestohlenen Kunstwerke, gerade die von jüdischen Familien. Das ist ebenfalls ein Skandal, vielleicht sogar der größere.
Museen genießen in der Bevölkerung in Deutschland ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen. Zu diesem Ergebnis kam unlängst eine repräsentative Umfrage. Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie Social Media liegen auf dem letzten Platz, knapp hinter Parteien. Wie kann die Kirche ihr Ranking verbessern?
Museen haben es natürlich leichter, weil es in ihnen um Artefakte geht. Dabei entsteht automatisch Wahrhaftigkeit. Die Kirche schafft Vertrauen, indem sie verlässliche Inhalte bietet. So dass ich, wenn ich mal fünf Jahre ausgetreten war, wiederkomme und Dinge so wiederfinde, wie ich sie kenne. Deshalb war es so eine verrückte Idee, als neulich eine Pastorin vorschlug, die Sonntagsgottesdienste abzuschaffen.
Wissen die Kirchen vor lauter Bürokratie nicht, wie wichtig sie in einer Gesellschaft sind, in der fast nichts mehr sicher ist? Die Kirchen bieten sichere Orte, Orte des Gemeinwohls, der Identifikation. Selbst in entchristianisierten Gebieten kämpfen die Leute um ihre Dorfkirche! Die Zivilgesellschaft braucht solche Orte, wo Menschen sich treffen können. Vielleicht fehlt es den Kirchen noch an Demut, um ihre Rolle in diesem großen Ganzen zu erkennen und zu schätzen.