#WeRemember

»Das ist immer wie ein kleines Wunder«

Luigi Toscano mit seinem Projekt »Lest We Forget« in Jerusalem Foto: Team Luigi Toscano

Herr Toscano, Sie sind gerade in Israel, in Jerusalem. Der Jüdische Weltkongress hat Sie eingeladen, dort Ihre Fotoausstellung »Lest We Forget« anlässlich des 27. Januar zu zeigen. Es ist die größte Ausstellung von Porträts, die die Geschichten von Überlebenden des Holocaust und anderer Nazi-Verbrechen auf der ganzen Welt dokumentiert. Was bedeutet es Ihnen, Ihre Fotos in Jerusalem zu zeigen?
Natürlich ist das etwas Besonderes. Zumal ich hier auch an der offiziellen Gedenkzeremonie teilnehmen werde. Als vor anderthalb Wochen der Anruf vom Jüdischen Weltkongress (WJC) aus New York kam, musste ich erst einmal tief Luft holen. Natürlich habe ich sofort zugesagt. Zumal es der zweite Anlauf ist.

Was war der erste?
Geplant war ursprünglich einmal etwas anderes. Vor zwei Jahren wollten wir die Originalbilder in Tel Aviv am Rothschild-Boulevard zeigen. Ich hatte schon eine Genehmigung, alles war arrangiert. Dann kam Corona. Das war ein Tiefschlag. Jetzt hier in Jerusalem die Bilder zu zeigen, ist sehr emotional für mich. Denn Jerusalem hat einfach noch einmal eine ganz andere Bedeutung.

Sie sind nicht zum ersten Mal in Israel.
Ich war schon oft in Israel. Im Zuge meines Projektes habe ich hier Menschen getroffen und porträtiert, in Tel Aviv, Haifa, in verschiedenen Kibbuzim. Gerne hätte ich nun im Rahmen der Gedenkkampagne #WeRemember auch meine Freundin Amira Gezow besucht. Leider ist sie im vergangenen Jahr an Corona gestorben. Zu ihr hatte ich ein besonderes Verhältnis: Sie kam ursprünglich aus Mannheim. So wie ich.

Es ist bereits Ihre zweite Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Weltkongress. Vor genau einem Jahr, zum 27. Januar 2021, zeigten Sie Ihre Fotos im UNESCO-Gebäude in Paris. Nun werden mehr als 100 Bilder von Schoa-Überlebenden an die Jerusalemer Altstadtmauer projiziert. Warum gerade dort?
Ich denke, das hängt mit der Symbolkraft dieses Ortes zusammen. Für Jerusalem kann man keinen besseren Ort finden, um diese Bilder zu zeigen.

Die Bilder sind zwei Meter hoch – ein sichtbares Zeichen, das auf die #WeRemember-Kampagne des Jüdischen Weltkongresses und der UNESCO aufmerksam macht. »Gegen das Vergessen«, so heißt auch Ihr Fotoprojekt. Was macht die Wirkung Ihrer Bilder aus?
Ich denke, wie auch schon die Erfahrung aus vergangenen Ausstellungen nahelegt, dass allein die Tatsache, dass Überlebende sich auf diesen Bildern zeigen, eine Mahnung bewirkt, alles daranzusetzen, dass so etwas nie wieder geschieht. Sie erinnern uns zudem eindringlich daran, uns gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus einzusetzen. Das ist die Message. Da sind Menschen, die eine unfassbare Tragödie überlebt haben. Sie mahnen uns. Wenn Menschen meine Bilder gesehen haben, dann macht das etwas mit ihnen, natürlich auf ganz individuelle Art. Aber so, dass ich erkennen kann: Es berührt sie. Und das ist auch meine Absicht.

Sehen Sie sich diesbezüglich eher als Künstler oder als Vermittler?
Eher als Botschafter vielleicht. Ich habe ja eine Botschaft. Die möchte ich in die Welt tragen. Dafür nutze ich jeden Raum, den ich dafür bekommen kann. Und wenn ich so einen öffentlichen Raum bekomme wie jetzt den in Jerusalem, dann weiß ich, dass ganz viele Menschen weltweit darauf aufmerksam werden. Das ist sehr beeindruckend.

Sie haben mehr als 400 Überlebende weltweit porträtiert. Und Sie tun das auch weiterhin. Was geht Ihnen in Ihrer Arbeit am meisten nahe?  
Wenn es um Eltern und Kinder geht. Ich war zum Beispiel kürzlich in Frankreich, auf Einladung der französischen Regierung und von CRIF, dem dortigen Zentralrat der Juden, um die letzten französischen Zeitzeugen zu porträtieren. In Paris bin ich Arlette begegnet. Bei ihr war es so: Der Vater wurde deportiert, und die Mutter, eine sehr starke Frau, hat es irgendwie geschafft, ihre drei Kinder in Paris zu verstecken. Die Mutter lief dennoch jeden Tag an den Bahnhof, um zu schauen, ob ihr geliebter Mann wiederkommt. Irgendwann hat man ihr gesagt: »Er kommt nicht wieder, er ist in den Gaskammern von Auschwitz ermordet worden.« Daraufhin ist diese starke Frau in sich zusammengebrochen – Arlette hat das sehr bildhaft erzählt. Als die Mutter die Todesnachricht von ihrem Mann erhielt, verabschiedete sie sich von ihren Kindern und nahm sich das Leben. Und Arlette? Sie war damals neun Jahre alt. Sie sagte mir: »In diesem Moment wurde ich erwachsen.« Und sie ist immer noch wütend auf ihre Mutter. Wenn man so etwas hört, dann lässt einen das nicht kalt.

Wie bereiten Sie sich auf Ihre Arbeit vor? So eine Begegnung setzt Vertrauen voraus. Wie gewinnen Sie dieses Vertrauen?
Nun, es ist nicht so, dass ich in die Wohnung gehe, das Foto mache, und das war es. Ich verbringe mit den Menschen eine gewisse Zeit. Und in Momenten wie diesen, wenn sie beginnen zu erzählen, kann ich nicht einfach aufstehen und gehen, weil es mich emotional herausfordert. Wir durchleben diesen Part gemeinsam. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Ich gehe da auch nicht mit der Haltung heran: Hier kommt jetzt der Fotograf. Sondern die Begegnungen sind zutiefst menschlich. Es ist so, als ob man die eigene Oma, den eigenen Opa besucht. Ich achte immer darauf, eine Kleinigkeit mitzubringen. Brot, Butter, Wurst in der Ukraine, ohne viel Theater, das haben wir einfach wortlos auf den Tisch gelegt. Oder in Frankreich Pralinen von einem Chocolatier. Das ist einfach Old School.

Sie lassen sich also komplett darauf ein.
Absolut. Am Anfang, als ich mit dem Projekt begann, sogar noch viel mehr. Da war ich völlig schutzlos und, ehrlich gesagt, auch sehr naiv. Ich hatte nicht erwartet, dass mich das Erzählte, die Begegnungen, diese Menschen mit dieser Wucht erreichen. Es ist etwas anderes, wenn man einem Menschen gegenübertritt, der diesen Wahnsinn überlebt hat, als wenn man das als Doku im Fernsehen sieht.

Wie hat sich Ihre Arbeit dadurch verändert?
Ich habe im Laufe der Zeit gelernt, anders damit umzugehen. Ansonsten ist es immer die gleiche Herangehensweise. Wovon ich profitiere, ist die Erfahrung. Wenn ich zu einem Menschen nach Hause komme, entscheidet sich der Verlauf der Begegnung in den ersten Bruchteilen von Sekunden. Früher war da eine gewisse Portion Skepsis seitens der Menschen. Sie wissen ja nicht, wer da jetzt kommt. Da wird man dann im Laufe des Gespräches warm. Das Schöne ist – gerade in Frankreich habe ich das erlebt –, dass ich immer sehr offen und freundlich empfangen werde. Natürlich kommt mir zugute, dass das Projekt mittlerweile an Bekanntheit gewonnen hat. Viele sind auch stolz, an ihm teilzunehmen. Früher brauchte ich mehr Vorlauf, mehr Anlauf, mehr Zeit. Heute ist es so, als ob ein Freund zu Besuch kommt.

Sie sprachen von Ihrer Botschafterrolle und der Wirkung Ihrer Bilder auf Außenstehende. 2021 erhielten Sie das Bundesverdienstkreuz und sind der einzige UNESCO-Artist for Peace-Botschafter. Was bewirkt Ihre Arbeit bei den Überlebenden selbst? Viele haben erst im Alter begonnen, überhaupt ihr Schweigen zu brechen, ihre Geschichte zu erzählen, sich zu zeigen, weil sie spüren, ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit, Zeugnis abzulegen.
Das ist absolut richtig. Wissen Sie, es geht sogar so weit, dass ich Menschen begegnet bin, in der Ukraine etwa, die zum allerersten Mal im Zusammenhang mit diesem Projekt überhaupt von ihrem Erlebten gesprochen haben. Das ist immer wie ein kleines Wunder. Ich war zum Beispiel in einem kleinen Dorf, weit weg von Kiew. Die Großmutter hatte die ganze Familie um sich versammelt. Und plötzlich hat sie von den Schrecken erzählt, die sie erleben musste. Das habe ich oft erlebt. Vor Kurzem auch erst wieder in Frankreich.

Ist Ihr Projekt eine Art Türöffner? Was nehmen Sie da wahr?
Ich spüre, dass den Porträtierten das sehr wichtig ist. Gerade auch, weil sie sehen, was um sie herum passiert. Antisemitismus, Rechtsextremismus, Populisten. Ich denke, dieses Projekt bewirkt nicht nur bei den Betrachtern der Bilder viel, sondern auch bei den Porträtierten selbst. Manche Menschen sind dann sehr aufgeregt. Sie gehen extra vorher zum Friseur, machen sich zurecht. Daran merkt man, wie wichtig ihnen das ist.

Gibt es etwas, das Sie im Zuge Ihrer Arbeit überrascht hat, etwas, womit Sie nicht gerechnet hätten?
Ja, das passiert immer wieder. In North Carolina etwa habe ich Susan Cernyak-Spatz porträtiert. Wir sind so dicke Freunde geworden, dass ich sie besuche, wann immer ich in Amerika bin. Susan ist nur 1,60 Meter groß. Aber sie hat so eine Energie und so ein Temperament, dass man denkt, ein Riese steht vor dir. Ich wollte ihr Blumen mitbringen, fand aber keinen Blumenladen, der offen hatte, es war wie verhext. Dann habe ich ihr einen, zugegeben nicht sehr schönen, Blumenstrauß von Walmart mitgebracht, weil ich nicht mit leeren Händen kommen wollte. Und während sie mich begrüßte und in Richtung Küche lief, um uns Kaffee zu kochen, warf sie den Blumenstrauß gnadenlos in den Mülleimer. Ich habe mich so erschrocken! Und zugleich gelacht. Das war eine wunderbare Situationskomik. Das gehört auch dazu. Es ist nicht nur alles traurig. Wir haben stellenweise auch Riesenspaß. Und das Bild, das mache ich immer ganz zum Schluss.

Mit dem Fotografen und Filmemacher sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

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