Ein ungarisches Dorf im Zweiten Weltkrieg. Zwei adrett gekleidete 13-jährige Zwillingsbrüder stehen mit ihrer überforderten Mutter das erste Mal vor der »Hexe«. Es ist ihre Großmutter, eine barsche, burschikose Frau. Bei ihr müssen die Jungs bis Kriegsende bleiben, schwer arbeiten und Schläge und Beschimpfungen erdulden. Sie härten sich dagegen ab mit gegenseitigen Prügeln und Beleidigungen, bis sie gegen den physischen und psychischen Schmerz immun werden. Abends schreiben sie alles in ein »großes Heft«, das ihnen der Vater mitgab, kurz bevor er an die Front musste.
Der ungarische Regisseur János Szász hat den in über 40 Sprachen übersetzten Roman Le Grand Cahier von Ágota Kristóf wieder zurück nach Ungarn verortet. Im Buch sind Zeit und Ort nur vage benannt. Bei Szász ist der Krieg eindeutig der Zweite Weltkrieg, die große Stadt wird wieder zu Budapest. Die Protagonisten sprechen Ungarisch, und der Film benennt in einer wichtigen Episode auch direkt die brutale Judenverfolgung ab 1944. In einer zentralen Szene werden Juden durch die engen Gassen getrieben, beschimpft und gedemütigt. Szász ist selbst jüdisch und drehte für Steven Spielbergs »Shoah Foundation« die Doku The Eyes of the Holocaust.
konkretisierung Die Verfilmung des Kultbuchs von Ágota Kristóf hat natürlich die Puristen auf den Plan gerufen, die dem Regisseur die Konkretisierung durch Bilder vorwerfen. Dabei verkennen diese Kritiker, wie ungarisch die Geschichte ist. Natürlich hat Szász Veränderungen vorgenommen. Die Großmutter ist im Film keine eklige, abstoßende, spindeldürre Hexe, sondern eine energische Frau, die anfängt, sich an ihre Enkel zu gewöhnen. Sie wirkt so menschlicher und realistischer. Auch die beiden Jungs zeigt der Film, mehr als im Buch, als Opfer der Erwachsenen, die den Krieg zu verantworten haben. Die oft schockierenden sexuellen Szenen des Buches sind im Film nicht zu sehen oder entschärft, weil der Film sonst an die Grenze zur Pädophilie geraten wäre, wie Szász erklärt.
Allerdings finden durch Auslassungen auch dramaturgische Verkürzungen und Vereinfachungen statt. Vor allem die ambivalente Figur der sinnlichen Magd, die sich den Jungs, wie auch anderen Männern, freizügig hingibt, gleichzeitig eine hasserfüllte Antisemitin ist, wirkt im Film eindimensionaler. Und doch hat János Szász den primitiven Judenhass der »einfachen« Ungarn nicht klischeehaft dargestellt, sondern schlicht benannt. Dabei hat er bewusst eine gewisse Überhöhung beibehalten, verzichtet beispielsweise auf einen überdeutlichen Realismus, wie das Tragen des gelben »Judensterns«.
Das Große Heft ist der erste ungarische Film, der von dem neuen staatlichen Nationalen Filmfonds produziert wurde, dem der von Ministerpräsident Viktor Orbán ernannte Hollywoodproduzent Andy Vajna vorsteht. Oppositionelle Medien haben ihn deshalb verrissen, ohne auf das Werk wirklich einzugehen. Dem politisch liberalen Juden Szász wurde vorgeworfen, Geld aus einem »rechten« Fördertopf angenommen zu haben. Und obwohl Das Große Heft Mitte September in Ungarn in vielen Kinos startete, blieb das Publikum fern. Mit der eigenen bitteren Vergangenheit mag man sich derzeit wohl nicht auseinandersetzen.