Auf Detlef Müller wartet eine eiskalte Nacht. Schon am frühen Abend pfeift ein beißender Nordostwind über den weitläufigen jüdischen Friedhof in Baiersdorf. 1278 Grabsteine zeugen von der einstigen Größe der jüdischen Gemeinde der mittelfränkischen Kleinstadt nördlich von Erlangen. Müller kennt fast jede Gedenktafel. Denn er hat fast alle penibel dokumentiert – viele bei Dunkelheit.
Denn vor allem ältere, stark verwitterte Grabsteine geben die Geheimnisse ihrer hebräischen Inschriften und Symbole oft erst unter seitlich darauf fallendem Taschenlampenlicht preis. Der Umstand zwang den Berliner Experten für die Entzifferung jüdischer Grabinschriften in den vergangenen fünf Jahren bei seinen Arbeitsbesuchen in Baiersdorf zu Dutzenden Nachtschichten mit Stirnlampe und Laptop.
Gelegentlich steht Müller vor einem Rätsel.
Müller spricht fließend Hebräisch. Der Theologe hat zwei Jahre in Israel studiert und ist auch mit dem Bibel-Hebräisch vertraut. Dennoch steht auch Müller gelegentlich vor einem Rätsel. »Oft finden sich auf Grabsteinen auch Angaben zur Biografie des Verstorbenen, sogenannte Eulogien. Die müssen bei dem geringen Platz auf den Steinen so kurz wie möglich gefasst sein. Dadurch finden sich dort viele Abkürzungen, oft auch noch regional unterschiedlich«, erzählt Müller.
Funktion Auch das oft eingemischte Bibel-Hebräisch macht die Entzifferung der Grabsteine mitunter zu einer Herausforderung. Wer jüdische Inschriften verstehen will, muss auch mit der jüdischen Symbolsprache vertraut sein. »Viele Symbole erinnern an die Funktion der Verstorbenen innerhalb der jüdischen Gemeinde oder beim Dienst in der Synagoge«, erklärt Müller. So weisen gespreizte Hände auf eine frühere Priesterfunktion, ein Beschneidungsmesser auf den früheren Beschneider hin.
Viele der ermittelten Informationen sind in eine Datenbank eingeflossen.
Rund 50.000 Euro lässt sich die 7700 Einwohner zählende Stadt Baiersdorf die Dokumentation der Grabstätten kosten. Dank Müllers Einsatz seien dem Friedhof etliche Geheimnisse entlockt worden, sagt Daniela Pietsch, die für die städtische Kultur- und Öffentlichkeit zuständig ist. »Wir wissen jetzt beispielsweise, dass es dort einen Frauenfriedhof gibt und woher die Verstorbenen stammen«. Der Friedhof war nicht nur für Tote aus Baiersdorf reserviert, die Stadt war jahrhundertelang Oberrabbinat für die Markgrafschaft Ansbach.
Datenbank Inzwischen steht das Projekt vor dem Abschluss. Viele der von Müller ermittelten Informationen sind in eine von der Stadt aufgebaute elektronische Datenbank eingeflossen. Diese soll bis Anfang 2020 freigeschaltet werden und die erfassten Daten weltweit online recherchierbar machen. Schon jetzt sei das Interesse groß. »Inzwischen hatten wir schon Besuch von Nachkommen früherer Baiersdorfer Juden aus den USA, England und Frankreich«, sagt Pietsch. Das dürften bald noch mehr werden.
Ein großes Interesse an einer historischen Aufarbeitung alter jüdischer Friedhöfe besteht auch beim Zentralrat der Juden in Deutschland. »Denn in diesen Stätten spiegelt sich die Jahrhunderte lange jüdische Tradition in Deutschland wider, die durch die Schoa fast völlig zerstört wurde. Daher sollte das historische Erbe, das die Friedhöfe darstellen, unbedingt gepflegt werden«, fordert Zentralratspräsident Josef Schuster.
Bundesweit gibt es rund 2000 jüdische Friedhöfe.
Zentralrat In den vergangenen Jahren ist hier aus Sicht des Zentralrats schon viel geschehen. Von vielen jüdischen Friedhöfen seien Dokumentationen angelegt, etwa im Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden. Auch das Haus der Bayerischen Geschichte verfüge über eine entsprechende Datensammlung. Ebenso erforsche und dokumentiere das Ludwig-Steinheim-Institut in Essen jüdische Friedhöfe.
Nach Zentralratsangaben gibt es bundesweit rund 2000 jüdische Friedhöfe; sie sind überwiegend verwaist. Um sie kümmerten sich die Landesverbände der jüdischen Gemeinden. Für Pflege und Unterhaltung kämen nach einer Vereinbarung aus dem Jahre 1957 Bund und Länder auf.