Als im vergangenen Jahrhundert, vor etwa 40 Jahren, deutsche Musiker beim Festival »Theater der Nationen« mit Klezmermusik auftraten, saß ich im Publikum und nahm übel. Es war mir, der Jüdin, nicht recht, dass zwei Frauen und drei Männer, deren Eltern aller Wahrscheinlichkeit nach Täter und Mitläufer gewesen waren, jiddische Lieder sangen. Aber von uns Juden im damaligen Westdeutschland, Nachgeborenen von Überlebenden, verwandt mit Ermordeten, spielte niemand Klezmer, sang niemand auf Jiddisch Lieder aus dem Ghetto vor Publikum. Wagten wir nicht, daran zu rühren? Konnten wir es denn? Versuchten wir es?
Hätte man uns deutsche Juden auf die Bühne gelassen mit jüdischen Texten, mit jüdischer Musik? War es mit Israelis, mit Esther Ofarim und Abi, nicht angenehmer fürs deutsche Publikum? Hätten wir aufstehen sollen, protestieren, den deutschen Künstlern untersagen, verbieten, als Nachkommen der Täter unsere Lieder zu spielen? Weil wir gekränkt waren? Weil es uns verstörte, Deutsche auf Jiddisch singen zu hören: »mir lejben ejbig«?
Etwas war gut daran. Sie holten jüdische Kultur aus der Versenkung, wozu wir nachgeborenen Juden in der BRD noch nicht imstande gewesen waren. Sie brachten Klezmer wieder zu Gehör. Sie trauten sich, sie hatten Jiddisch gelernt, einige färbten das Haar schwarz, ließen sich Locken machen, manche konvertierten zum Judentum und trugen den Davidstern am Halskettchen.
Sie sangen jiddische Lieder, manche trugen den Davidstern. Kulturelle Aneignung in den 80ern?
Kulturelle Aneignung? Ja. Und auch wieder nicht. Ist die Ausmordung (das Wort kommt von Golo Mann) des europäischen Judentums und die Auslöschung seiner Kultur nicht auch Teil ihrer, der Deutschen, Geschichte?
SKLAVEREI Black Lives Matter: Das war überfällig. Wiedergutmachung für erlittene Sklaverei, für erlittene Rassentrennung und alles, was damit zusammenhängt. Auch das war und ist überfällig. Diejenigen, die es betrifft, deren Elterngenerationen ihnen Rechte erkämpft haben, können studieren, sie können in die Politik gehen, sie können in Parlamenten und Gerichten für ihre Rechte streiten in den Ländern der westlichen Welt, in denen sie seit Generationen leben, deren weiße Kultur sie übernommen haben: Sprache, Religion, Bildung, Kleidung.
Black Lives Matter. Und wer hat sich an die Spitze dieser Bewegung gestellt? Linke Identitäre, und die meisten von ihnen sind Weiße. Deren Schulderbe ist der Rassismus und Kolonialismus, ist die Sklaverei, die Schoa und nun auch noch das Klima. Was macht man mit einem solchen Päckchen auf dem Rücken? Man erfindet sich selbst neu als die Generation der Unschuldigen.
Man verbietet allen Weißen die Aneignung fremder Kulturen, am besten noch das Essen mit Stäbchen. Man praktiziert Herrschaftsverhalten und verlangt Unterwerfung im Namen der totalen Toleranz. Man toleriert den Islamismus und seine Mordanschläge als kulturelle Eigenart, und die internationale Frauenbewegung schweigt, wenn Flüchtlinge aus islamischen Ländern Frauen vergewaltigen, die der westlichen Kultur angehören. Was kränkend, was beleidigend sei, bestimmen die Inquisitoren und Inquisitorinnen.
»Génération offensée«, Generation Beleidigt, nennt in ihrem gleichnamigen Essay die französische Autorin und Filmemacherin Caroline Fourest diese Bewegung. Vor ihr gehen intellektuelle Kreise und Politiker in die Knie, denn ihr Machtinstrument ist das Internet, das World Wide Web.
CHARLIE HEBDO Caroline Fourest war Mitarbeiterin bei »Charlie Hebdo«. War das nicht das französische Magazin mit den Mohammed-Karikaturen? Und sind die Redakteure nicht in die Luft gejagt worden von Muslimen? Und dennoch hat sich im vergangenen Jahr in Berlin ein kleiner Verlag gefunden, der es wagte, die Übersetzung aus dem Französischen unter das leicht kränkbare, moralisch wie ethisch hochempfindliche Lesepublikum in Deutschland zu bringen: die Edition Tiamat im Verlag Klaus Bittermann. Von seiner Aktualität hat dieses Buch seitdem nichts verloren – ganz im Gegenteil.
Gibt es vergleichbare Manuskripte von deutschen Autoren? Oder werden sie nur im Kopf geschrieben und verworfen, noch bevor die Finger die Tastatur erreichen können? Ich behaupte, es gibt sie, es gibt sie in den Papierkörben deutscher Verlage: wie die westliche Gesellschaft unter der Diktatur der »Generation Beleidigt« allmählich intellektuell austrocknet, wie man gehorsam nachbetet, was verlangt wird.
Soll man, darf man das drucken? Und wenn man es tut, braucht man dann Personenschutz rund um die Uhr? Und wer soll das bezahlen? Verleger fragen sich bei jedem Manuskript: Lässt sich das verkaufen? Das ist legitim. Es lässt sich verkaufen! Die Rezensenten, nachdem sie Caroline Fourests Essay auf Deutsch lesen konnten, waren begeistert.
UNIVERSITÄTEN Die Autorin schildert kenntnisreich den hysterischen Aktionismus von Studierenden jeder Hautfarbe an westlichen Universitäten und die davor sich beugende Dozentenschaft. Niemand darf beleidigt werden, niemand darf kritisiert werden. Auslöschung der Streitkultur und sowieso der Polemik; sie wurde in Deutschland einst typisch jüdisch genannt. Hetzjagden, Forderungen nach Umerziehung und erschreckend klägliches Gewimmer der an den Internet-Pranger Gestellten. Das ist womöglich das Schlimmste daran: die Unterwerfung.
Keine Demo kommt heute aus ohne ein Transparent »Apartheidstaat Israel – Free Palestine«.
Wo immer die linken Identitären ein Unrecht wittern, schnappen sie es sich. Keine Demonstration, ob für öffentliche Unisex-Klos oder gegen Corona-Impfung, kommt heutzutage noch aus ohne ein Transparent mit der Aufschrift »Apartheidstaat Israel – Free Palestine«.
Denn das ist allgemein Konsens und sollte niemanden verwundern: Mit den Juden geht das. Straflos. Das sind bloß ein paar Millionen, und die Juden tun einem ja nichts.
Caroline Fourest: »Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer. Eine Kritik«. Aus dem Französischen von Alexander Carstiuc, Mark Feldon und Christoph Hess. Edition Tiamat, Berlin 2020, 200 S., 18 €