TV-Tipp

Das fast vergessene Kapitel der Nachkriegsjustiz

Szene aus »Die Rastatter Prozesse – Kriegsverbrecher vor Gericht« Foto: moving story production

Mit einem wenig beachteten Kapitel der Justizgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg befasst sich eine eindringliche Dokumentation auf Arte: mit den Rastatter Kriegsverbrecherprozessen. Sie wurden im April 1946 eröffnet und gehören zu den größten nach dem 2. Weltkrieg. Heute sind sie fast vergessen. Das liege unter anderem an einer 100-jährigen Sperrfrist für französische Militärprozessakten, die inzwischen aufgehoben wurde, erzählt die Dokumentarfilmerin Judith Voelker.

Zudem hätten die Nürnberger Prozesse gegen führende Militärs und Funktionäre des NS-Regimes viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In Rastatt dagegen saßen »gewöhnliche« SS-Beamte und deren Handlanger auf der Anklagebank.

In dem Beitrag »Die Rastatter Prozesse - Kriegsverbrecher vor Gericht«, den Arte heute um 20.15 Uhr ausstrahlt, zeigt Voelker, dass die Gerichte in beiden Städten damit auch einen pädagogischen Auftrag zur Entnazifizierung und demokratischen Umerziehung der Deutschen verbanden.

Das Tribunal General fand im Ahnensaal des Rastatter Schlosses statt und dauerte drei Jahre. 2130 Angeklagte aus den NS-Lagern in der französischen Besatzungszone wurden dort in 235 medienwirksamen Prozessen verurteilt.

Die Dokumentation zeigt an exemplarisch ausgewählten Prozessen den Verlauf der Verhandlungen und die Rolle der Beteiligten. Chefankläger war Joseph Granier, Regierungskommissar der Justizabteilung der französischen Militärregierung und leitender Staatsanwalt. »Es besteht kein Zweifel, dass das nationalsozialistische System verbrecherisch war, aber: Es gab Handlungsspielräume. Und um genau die geht es hier«, betont Granier im Gerichtssaal.

Er verhörte unter anderen den Aufseher Nikolaus Drokur aus dem KZ Neue Brömm bei Saarbrücken, der den Zeugen durch besondere Grausamkeit und Brutalität in Erinnerung geblieben war, berichtet Voelker. Drokur war ein frühpensionierter Bergmann, der vom Arbeitsamt zum Wachdienst im Lager eingeteilt wurde.

Drokur habe ihn geschlagen und misshandelt, berichtete ein Zeuge. Schon bei der Ankunft der Gefangenen im Lager hätten die Juden vortreten, schwere Steine aufheben und damit stundenlang um den Löschteich laufen müssen.

Drokur selbst gab zu Protokoll, dass er die Häftlinge manchmal geschlagen habe. Genaueres wisse er nicht mehr. Er denke, dass er bei dem Teich wohl dabei war, aber das sei nur »Sport« gewesen. Als Granier wissen wollte, ob er die Köpfe der Entkräfteten solange unter Wasser gedrückt habe, bis sie bewusstlos waren, bejahte er. Aber er sei doch kein Unmensch. Er habe nur getan, was von ihm erwartet wurde.

Im Prozess gegen das Lager Neue Bremm verhängte die Staatsanwaltschaft nach 17 Verhandlungstagen 14 Todesstrafen, darunter auch für Nikolaus Drokur, berichtet Voelker weiter. Die Filmemacherin dokumentiert darüber hinaus Verhandlungen aus anderen Kriegsverbrecherprozessen wie dem KZ Natzweiler-Struthoff im Elsass, wo sich viele Gefangene aus dem französischen Widerstand befanden, dem Donauraum und dem Gebiet der Schwäbischen Alb.

Viele Deutsche hätten damals gedacht, wenn in Nürnberg das NS-Regime angeklagt werde, entbinde sie das von der eigenen Verantwortung. Doch als die Alliierten begannen, sich auch mit den mittleren und unteren Rängen der Täter zu befassen, habe die öffentliche Ablehnung zugenommen, kommentiert Voelker.

Viele hätten auch gefragt, ob es rechtens sei, Urteile wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf der Grundlage eines Gesetzes auszusprechen wie dem Kontrollratsgesetz Nr. 10, das es zur Tatzeit noch gar nicht gegeben habe.

In der ungewöhnlichen Dokumentation wechseln Spielszenen, die an den Originalschauplätzen gedreht wurden, mit Zeitzeugenberichten, Einordnungen durch HistorikerInnen und selten gezeigte Archivmaterialien. Der Filmemacherin gelingt es, die Ereignisse ab 1946 lebendig und eindringlich zu schildern. So wird deutlich, dass eine angemessene Aufarbeitung der Kriegsverbrechen und Prozesse in der ehemaligen französischen Besatzungszone gerade erst begonnen hat.

»Die Rastatter Prozesse - Kriegsverbrecher vor Gericht«, Dokumentarfilm von Judith Voelker. Arte, Di 04.05., 20.15 - 21.45 Uhr.

Die Doku ist in der Arte-Mediathek hier abrufbar.

Medien

Antisemitische Aggression belastet jüdische Journalisten

JJJ-Vorsitzender Lorenz Beckhardt fordert differenzierte und solidarische Berichterstattung über Jüdinnen und Juden

 26.12.2024

Rezension

Ich-Erzählerin mit böser Wunde

Warum Monika Marons schmaler Band »Die Katze« auch von Verbitterung zeugt

von Katrin Diehl  25.12.2024

Bräuche

»Hauptsache Pferd und Kuh«

Wladimir Kaminer über seine neue Sendung, skurrile Traditionen in Europa und einen Kontinent in der Krise

von Nicole Dreyfus  25.12.2024

Dessau

»Was bleibt«

Am Anhaltinischen Theater setzt Carolin Millner die Geschichte der jüdischen Familie Cohn in Szene

von Joachim Lange  25.12.2024

Kolumne

Aus der Schule des anarchischen Humors in Minsk

»Nackte Kanone« und »Kukly«: Was mich gegen die Vergötzung von Macht und Machthabern immunisierte

von Eugen El  24.12.2024

Rezension

Die Schönheit von David, Josef, Ruth und Esther

Ein Sammelband bietet Einblicke in die queere jüdische Subkultur im Kaiserreich und der Weimarer Republik

von Sabine Schereck  24.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 19. Dezember bis zum 2. Januar

 23.12.2024

documenta

Retterin aus den USA?

Naomi Beckwith übernimmt die Künstlerische Leitung der Kasseler Schau, die für 2027 geplant ist

von Eugen El  23.12.2024

Kino

Neue Chefin, neues Festival? Das bringt die Berlinale 2025

Tricia Tuttle übernimmt die Leitung des Filmfests, das vergangenes Jahr von einem Antisemitismus-Skandal überschattet wurde

 23.12.2024