Rosemarie Koczy

Das falsche Opfer

Der Schrecken des Holocaust spielt in ihrem Werk eine zentrale Rolle: Tuschezeichnung von Rosemarie Koczy in der Ausstellung Foto: dpa

Das Stadthaus E in Recklinghausen beherbergt im Zimmer 306 das Büro von Georg Möllers. Der Erste Beigeordnete hat Geschichte, Germanistik, katholische Theologie, Philosophie und Pädagogik studiert, und irgendwie wird der Kommunalbeamte seit einiger Zeit all diesen Studienrichtungen gleichzeitig gerecht.

Gemeinsam mit Mitstreitern hat Möllers seit Jahren in Recklinghausen eine Gedenkkultur aufgebaut. Schon seit den 90ern wird die Geschichte der lokalen Jüdischen Gemeinde und aller Opfer der NS-Zeit erforscht und so aufbereitet, dass sie vor allem für Jugendliche erfahrbar ist. Den Opfern wurden durch Biografien und Fotos Gesichter gegeben. So entstand zum Beispiel ein Online-Gedenkbuch, das laufend vervollständigt wird.

fragen Als die städtische Kunsthalle jüngst eine Ausstellung der aus Recklinghausen stammenden, weltweit renommierten Künstlerin und vermeintlichen Schoa-Überlebenden Rosemarie Koczy ankündigte, erregte dies schon bald die Aufmerksamkeit des Beamten im Zimmer 306. Im Online-Gedenkbuch nämlich stand dieser Name nicht. Hatte man etwas übersehen? Bekanntlich haben die Nazis die Deportationslisten mit Eichmann’scher Gründlichkeit geführt. Kaum anzunehmen also, dass jemand in eines der Lager verbracht wurde, ohne registriert zu sein.

Damit fingen für Möllers die Ungereimtheiten an, von denen der fehlende Name in den Deportationslisten erst der Anfang war. Die Juden aus Recklinghausen waren nach Riga deportiert worden, Rosemarie Koczy aber hatte angegeben, man habe sie im Lager Traunstein, einem Außenlager des KZs Dachau, gefangen gehalten. »Das war ein reines Männerlager, Kinder gab es dort keine«, wusste Matthias Kordes, der Leiter des Stadtarchivs, als Möllers mit ihm über seine Recherchen sprach.

Gemeinsam machten sie sich in Archiven auf die Suche und wurden fündig. Aus der Heiratsurkunde von Koczys Eltern geht hervor, dass diese im Jahre 1938 als »deutschblütig« eingestuft worden waren. Und in den Kirchenarchiven tauchten Urkunden auf, die belegen, dass die spätere Künstlerin im Jahr nach deren Eheschließung in der Kirche St. Peter römisch-katholisch getauft worden und nach dem Krieg zur Firmung erschienen war.

Identität »Ich war geschockt!«, sagt Georg Möllers im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen, als sich die Befürchtung verdichtete, dass sich die 2007 verstorbene Rosemarie Koczy zu Lebzeiten eine falsche Identität konstruiert hatte. Koczy war mit ihrer Kunst, die den Holocaust thematisierte, bereits in den 70er-Jahren international berühmt, ehe sie sich – wie man nun weiß – Anfang der 90er-Jahre zur Schoa-Überlebenden stilisierte. Einen kommerziellen Grund jedenfalls hat es dafür nicht gegeben, das betont auch Hans-Jürgen Schwalm, der Leiter der Kunsthalle Recklinghausen. Und trotz ihrer Lüge bleibe ihr Werk herausragend.

Wie aber sollte man, nachdem die Werkschau erst einmal eröffnet worden war, mit den neuen Erkenntnissen umgehen? Man hätte die Information für sich behalten können, um sie erst nach der Finissage zu verkünden. Oder man hätte die Ausstellung auf der Stelle schließen und die Werke jener talentierten Künstlerin der Öffentlichkeit entziehen können. In Recklinghausen hat man einen anderen Weg gefunden: ein öffentliches Symposium, auf dem einem irritierten Publikum alle Erkenntnisse mitgeteilt wurden.

Fälle wie der von Rosemarie Koczy hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben, und das in einer Häufigkeit, dass man schon von einem Phänomen sprechen kann. Der habilitierte Psychiater Werner E. Platz, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, hatte einst als Gerichtsgutachter mit einem solchen Fall zu tun. Im mittleren Lebensalter hatte ein renommierter Wissenschaftler damit begonnen, sich mit der Schoa zu beschäftigen. Dabei kam er auf den Gedanken, dass er nicht das Kind seiner Eltern sei. Vielmehr sei er als jüdisches Kleinkind in Birkenau gewesen und erst später von diesen adoptiert worden.

störung Obgleich es dafür keinerlei reale Hinweise, geschweige denn Dokumente gab, wollte er seine Version gerichtlich durchsetzen. Dafür war er sogar bereit, auf eine millionenschwere Erbschaft zu verzichten, die ihm jene Eltern hinterließen, die er als solche nicht anerkennen wollte. Das Gericht aber vermochte seiner Fantasie keine juristische Legitimation zu erteilen – nicht zuletzt durch das psychiatrische Gutachten von Werner E. Platz, der dem Patienten eine wahnhafte Störung attestierte, die sich dadurch auszeichne, dass der Patient durch nichts von der Unrichtigkeit seiner Angaben zu überzeugen sei.

Über die Ursache für eine solche »wahnhafte Störung« kann im Fall von Rosemarie Koczy nur spekuliert werden. Möglicherweise hat die Beschäftigung mit der Schoa bei der sensiblen Künstlerseele zu einer übersteigerten Identifizierung geführt. Dies ist auch vor dem Hintergrund vorstellbar, dass sie durch die Galeristin Peggy Guggenheim in New York Kontakt zu vielen Juden hatte, denen sie sich zugehörig fühlen wollte. Vielleicht hat ja auch der Beigeordnete Möllers recht, der herausgefunden hat, dass Koczy eine Weile in einem Kinderheim verbracht hatte. Sollten etwa traumatische Erlebnisse dort in der Wahrnehmung der Erwachsenen zu einem KZ-Aufenthalt umgedeutet worden sein?

Für das Wahnhafte spricht, dass Koczy in den 90er-Jahren das Rote Kreuz mit der Suche nach Verwandten beauftragt hatte und ihr bei dieser Gelegenheit die eigene Geburtsurkunde ausgehändigt worden war, die sowohl die Eltern als auch sie selbst als römisch-katholisch auswies.

Letztlich, so der Psychiater Werner E. Platz, könne über die Ursachen solch einer wahnhaften Störung nur durch lange Gesprächssitzungen etwas in Erfahrung gebracht werden. Bei Rosemarie Koczy ist das nicht mehr möglich. In ihrem Fall müssen die vielen unbeantworteten Fragen offenbleiben.

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