Die Chasaren, ein Turkvolk von der Krim, sollen Legenden zufolge zum Judentum übergetreten sein. Der israelische Historiker Shlomo Sand hielt das für bare Münze und schrieb seinen Beststeller Die Erfindung des jüdischen Volkes. Antizionisten wie der Bethlehemer Pastor Mitri Raheb griffen das Motiv auf, um zu behaupten, dass heutige Juden ethnisch nicht mit dem biblischen Volk Israel verwandt seien, sondern von den Chasaren abstammten, und deshalb in »Palästina« nichts zu suchen hätten.
Shaul Stampfer, Experte für sowjetisches und osteuropäisches Judentum an der Fakultät für Geschichte des Jüdischen Volkes der Hebräischen Universität Jerusalem, hat jahrelang alle schriftlichen und archäologischen Quellen dieser Legende durchgeforstet und kommt zu dem Schluss, dass es keine zuverlässige historische Quelle für die Behauptung gibt, dass die Chasaren Juden waren. Weder Volk noch Elite seien zum Judentum konvertiert, schreibt Stampfer in der Fachzeitschrift »Jewish Social Studies«.
Konversion Zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert gab es ein Chasarenreich zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer. Die Chasaren hinterließen kein schriftliches Erbe, auch die archäologischen Funde sind rar. Im Jahr 969 soll Svyatoslav von Kiew das Chasarenreich überrannt haben. Seitdem hat man nichts mehr von ihnen gehört. Aber die Erzählung der Konversion hat überlebt. Erste Berichte darüber tauchten in muslimischen und zwei hebräischen Schriften aus dem 10. Jahrhundert auf.
Der Dichter Jehuda Halevi aus dem Toledo (1075–1141) griff das Motiv auf und benutzte es in seinem philosophischen Werk Kusari als Rahmenhandlung, um das Judentum gegen Attacken von Muslimen, Karäern und anderen »Häretikern« zu verteidigen. In der Moderne erhielt die Geschichte der konvertierten Chasaren neuen Aufwind mit dem 1976 erschienenen populärwissenschaftlichen Buch von Arthur Koestler Der dreizehnte Stamm.
Forscher wiesen ihm umgehend Fehler und Irrtümer nach, aber Antisemiten beriefen sich auf Koestlers Werk, um die Legitimität des Staates Israel zu bestreiten. Der überzeugte Zionist Koestler war sich des Missbrauchs bewusst und schrieb: »Ob die Chromosomen seines Volkes nun die Gene der Chasaren oder solche semitischer, romanischer oder spanischer Herkunft enthalten, ist irrelevant und kann nicht das Existenzrecht Israels (infrage stellen).« In der Sowjetunion wurde die Chasarentheorie zur Rechtfertigung für Antisemitismus herangezogen.
Stampfer hat alle Quellen geprüft, die von anderen Wissenschaftlern ungeprüft übernommen worden waren, um dem Ursprung dieser Geschichte auf die Spur zu kommen. Archäologen hatten im Chasarenland keine Gräber mit typisch jüdischen Symbolen oder andere archäologische Hinweise gefunden. So bleiben nur Textdokumente, wie ein Briefwechsel aus dem Jahr 960 zwischen dem spanisch-jüdischen Chasdai ibn Schaprut und Joseph, König der Chasaren, sowie Beschreibungen arabischer Autoren.
Wiedersprüche Stampfer fand, dass alle diese Dokumente eine »Kakophonie von Verdrehungen, Widersprüche, eigene Interessen und andere Anomalien« enthielten. Manche Texte seien falschen Autoren zugeschrieben worden. Historische Berichte, etwa eines »Sallam, der Übersetzer«, 842 vom Kalifen von al-Wathiq ausgesandt, erwähnen zwar die Chasaren, aber mit keinem Wort deren Konversion zum Judentum.
Der Mangel an zuverlässigen Quellen und einleuchtenden Gründen für einen Übertritt zum Judentum bringen Stampfer zu der Erkenntnis, dass die Konversion der Chasaren eine Legende ohne faktische Basis sei. »Ich hätte nicht gedacht, wie schwierig es sein kann, den Beweis für etwas zu bringen, was nie passiert ist«, sagte Stampfer. Viele Seiten in Geschichtsbüchern müssten neu geschrieben werden, etwa über den jüdischen Einfluss auf das frühe Russland und ethnische Kontakte.
Stampfer sagt, dass Wissenschaftler ungern lieb gewonnene Paradigmen aufgeben. Doch Geschichtsschreibung müsse zwischen Wahrheit und Erfindung unterscheiden. Das ist umso wichtiger, wenn eine unbewiesene historische Legende bis heute dazu dient, die Existenz des jüdischen Volkes und die Legitimität des Staates Israel infrage zu stellen.