»Leo Baeck begann jeden Morgen mit dem Dawnen, das heißt, mit dem Gebet. Dann las er ein Blatt Gemara, eine Doppelseite des Talmuds. Sodann las er einen Akt aus einem griechischen Theaterstück, natürlich in Originalsprache. Und erst dann war er für den Tag bereit.« Mit Verweis auf ein Zitat des Religionsphilosophen Ernst Simon und dessen Erinnerung an Rabbiner Leo Baeck, die große Führungspersönlichkeit der deutschen Juden im 20. Jahrhundert, begann der Historiker Michael A. Meyer seinen Festvortrag.
Es hätte keinen besseren Redner geben können, um Leo Baeck am Abend seines 150. Geburtstags im Jüdischen Museum Berlin zu würdigen. Meyer (85), als Kind 1941 aus Berlin emigriert und in den USA aufgewachsen, war von 1991 bis 2013 Präsident des Leo-Baeck-Instituts und langjähriger Professor am Hebrew Union College in Cincinnati. 2021 veröffentlichte er die Biografie Leo Baeck. Rabbiner in bedrängter Zeit. Sein Vortrag war tiefsinnig und gleichzeitig unterhaltsam – eine Kombination, die man selten bei deutschen Akademikern findet. Und seine Würdigung von Leo Baeck drehte sich nicht nur um die historische Bedeutung des Rabbiners, sondern war auch erschreckend aktuell.
Etwa, nachdem Meyer darüber gesprochen hatte, wie Baeck versuchte, in der NS-Zeit das Selbstbewusstsein der deutschen Juden aufzurichten: »Der anfängliche Angriff auf die Juden in Deutschland war nicht nur ein Angriff auf ihren Lebensunterhalt, es war auch ein Angriff auf ihr Selbstwertgefühl und darauf, was ihnen lieb und teuer war (…). Tag für Tag erlebten die deutschen Juden ihre Verunglimpfung in der Nazipresse und mussten sich die Verleumdungen im Radio anhören. Bald wurde erzählt, dass jüdische Kinder, die dem Ansturm dieser Negativität nicht standhielten, selbst zu glauben begannen, sie seien tatsächlich irgendwie minderwertig.«
HERAUSFORDERUNG Die größte Herausforderung bei der Führung eines unterdrückten Volkes, so Meyer, »ob für die Juden in Nazi-Deutschland oder für jedes andere Volk, auf welchem Kontinent auch immer in unserer modernen und heutigen Welt, ist der Kampf gegen die Entmenschlichung der Person und die Verunglimpfung der Religion oder Kultur, die dieser Person angehört«. Denn es sei »eine Pflicht, den Unterdrückten zu sagen: Ihr seid nicht das, was über euch und eure Traditionen behauptet wird. Ob ihr nun Rohingya, Uiguren oder das Volk der Ukraine seid«.
Meyer nannte Leo Baeck eine »heroische Führungspersönlichkeit in den dunkelsten Zeiten«.
In etwa 50 Minuten zeichnete Meyer das Leben von Leo Baeck nach, der am 23. Mai 1873 in Lezno (Polen) zur Welt kam, ab 1933 die Reichsvertretung der deutschen Juden leitete, 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurde und 1945 nach London emigrierte, wo er 1956 starb. Immer wieder kam der Historiker auf die außerordentliche Gelehrsamkeit des Rabbiners zu sprechen, aber auch auf seinen moralischen Kompass.
Leo Baeck, die »heroische Führungspersönlichkeit der jüdischen Gemeinde in den dunkelsten Zeiten«, sei ein Vorbild für Verantwortung und Integrität gewesen und stehe »für das Beste am deutschen Judentum. Er ist auch repräsentativ für die moderne jüdische Forschungstätigkeit, die Wissenschaft des Judentums, die vor 200 Jahren hier in Berlin ihren Anfang nahm, und für die Lebendigkeit jüdischen religiösen Lebens«, so Meyer.
HALBWAHRHEITEN Der große Stellenwert, den das Lernen im Leben der deutschen Juden einnahm, sei sicherlich »eine ihrer bewundernswert besten Eigenschaften, eine Eigenschaft, die in einer Zeit wie der unseren geschätzt werden sollte. Eine Zeit, in der verstandesmäßiges Streben nach Erkenntnis und die sorgfältige Beschäftigung mit der Vergangenheit nur zu oft durch bequeme Unwahrheiten oder Halbwahrheiten, die zu überstürztem Handeln führen oder dieses rechtfertigen, verdrängt werden«.
Das Lernen sei für Baeck nur Auftakt seines Tagesablaufs gewesen: Gemäß der jüdischen Tradition sei es für ihn der Midrasch gewesen, die auf Traditionen basierende Schriftauslegung, die zu moralischer Haltung und moralischem Handeln führte. Baeck habe beides verbunden – »in dem, was er verpflichtendes Denken nannte«. Doch Michael A. Meyer ging auch auf das große Versagen von Wissenschaft und Gelehrsamkeit im »Dritten Reich« ein: »Die Intellektuellen erlagen der NS-Propaganda und versagten auf ganzer Linie, dies zu bereuen. Selbst, nachdem sie von den Folgen erfahren hatten.«
An einen ehemaligen Rabbinatsstudenten habe Baeck über den »Bankrott der Universitäten« geschrieben: »Nicht nur kann Wissenschaft von böswilligen Diktatoren für ihre üblen Zwecke missbraucht werden. Auch Menschen guten Willens können ihr besseres Wissen leicht unterdrücken. Bildung selbst auf höchstem Niveau verhindert nicht das Schönreden des Bösen. Sie kann ihm sogar Vorschub leisten.«
tragödie Wie viele Juden nach der Schoa, so Meyer, sei Baeck nicht in der Lage gewesen, die Tragödie des Todes von sechs Millionen Juden rational mit dem Handeln eines gerechten Gottes in Einklang zu bringen. »Er hat es auch nicht versucht. Er schrieb keine Theodizee. Schon zuvor hatte er nicht nur vom Gebot geschrieben, sondern auch vom Geheimnis. Es war möglich, den Willen Gottes zu kennen, nicht aber sein Wesen.«
Baeck müsse gedacht haben, »dass es eine tiefe Beleidigung für Trauernde wäre, den Tod ihrer Lieben theologisch zu rechtfertigen. Dies nicht zu tun, war kein Ausweichen, sondern eine Anerkennung der menschlichen Begrenztheit. Wie der biblische Hiob glaubte auch Baeck, dass Gottes Wesen jenseits menschlicher Erkenntnis liege. (…) Man könne nur auf das jahrtausendelange Überleben des jüdischen Volkes verweisen, dessen immer wiederkehrende Renaissance er in seinem zweiten und letzten Buch Dieses Volk. Jüdische Existenz schilderte. Das jüdische Volk, selbst Moses, habe den Schleier der Existenz Gottes nicht durchdrungen. Aber die geschichtliche Existenz dieses Volkes, eine Antwort auf Gottes Gebot, habe ihm die Kraft gegeben, die Jahrhunderte zu überstehen«.
STÄRKE Zum Schluss seines Vortrags kam Michael A. Meyer erneut auf die Gegenwart zu sprechen. Sicherlich, sagte er, hätte Leo Baeck sich darüber gefreut, dass die neue, selbstbewusste jüdische Gemeinschaft in Deutschland weiter an Stärke gewinnt. »Könnte man ihn heute danach fragen, würde er seine Antwort vielleicht mit dem Wort ›Dennoch‹ beginnen. Dennoch. Auch nach der Schoa gibt es jüdische Bildung und jüdisches Leben in Deutschland. Midrasch und Maasse, Lernen und Handeln. 150 Jahre nach seiner Geburt ehren wir das Andenken des Rabbiners Leo Baeck. Möge es uns herausfordern, in seine Fußstapfen zu treten.«
Es sei eine Pflicht, den Unterdrückten zu helfen, ob Rohingya, Uiguren oder das Volk der Ukraine.
Shimon Stein, ehemaliger Botschafter Israels in Berlin und Vorsitzender des Vereins »Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts«, hatte zuvor die drei Zentren in Jerusalem, London und New York, die 1955 zeitgleich gegründet wurden, sowie wichtige wissenschaftliche Projekte der Einrichtungen genannt.
Leo Baeck sei nicht nur ein bedeutender Rabbiner, sondern auch ein Visionär in Zeiten großer Herausforderungen gewesen, betonte Stein: »Er setzte sich beispielsweise für den interreligiösen Dialog zwischen Judentum und Christentum ein und war überzeugt, dass dieser der Schlüssel zu einem besseren Verständnis und zur Zusammenarbeit beider Religionen sei. Seine Lehren und sein außergewöhnliches Engagement für die jüdische Gemeinschaft vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg haben das Leo-Baeck-Institut bis heute geprägt und inspirieren, uns für Toleranz, Demokratie und Freiheit einzusetzen.« Zum Schluss appellierte Shimon Stein an die Anwesenden, Mitglied des Fördervereins zu werden.
standardwerk Im Anschluss an Stein sprach Miriam Rürup, Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien und Professorin für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam. Sie leitet die wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts und ging kurz auch auf das Standardwerk Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit ein, das unter anderem von Michael A. Meyer und dem Münchner Historiker Michael Brenner herausgegeben wurde und in mehreren Bänden beim Verlag C.H. Beck erschienen ist.
Etwa 150 Menschen waren zu der festlichen Veranstaltung im Glashof des Jüdischen Museums Berlin gekommen, unter ihnen Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, die Verlegerin Friede Springer sowie die stellvertretenden Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer und Mark Dainow. Aus Krankheitsgründen abgesagt hatte Claudia Roth, Grünen-Politikerin und Staatsministerin für Kultur und Medien, die ursprünglich ein Grußwort sprechen sollte.
Michael A. Meyer: »Leo Baeck. Rabbiner in bedrängter Zeit. Eine Biographie«. Aus dem Englischen von Rita Seuß, München 2021, 364 S., 32 €