Sie lesen hier eine Buchrezension, lieber Leser und liebe Leserin, und die beginnt mit Verboten. Legen Sie diese Zeitung trotzdem nicht weg. Gehorchen Sie einfach!
1.) Lassen Sie die Finger von dem Buch, wenn Ihnen das Judentum, Sinnfragen zum Leben und zum Tod sowie Widersprüche bei diesen Themen egal sind. Cohens Lyrik rührt an die Grundfragen der Existenz. Und Cohen argumentierte gern und kenntnisreich mit den alten Schriften.
2.) Stellen Sie Die Flamme von Leonard Cohen nie in den Bücherschrank ins Regal »Popliteratur«. Eher zu Heine, Rilke, Goethe. Oder zu den Shakespeare-Sonetten. Schon bei Hesse wäre ich vorsichtig.
3.) Lesen Sie Cohens Gedichte und Notizen nie im Zug. Sie vergessen sonst Ihr Ziel.
4.) Lesen Sie das Werk nie online oder als E-Book. Seine Schönheit braucht Papier.
5.) Kaufen Sie niemals nur ein Exemplar. Lassen Sie den Buchhändler gleich drei weitere für Ihre wichtigsten Lebensmenschen in Geschenkpapier wickeln.
gedichte Leonard Cohen war Jude, Dichter, Liebender, Suchender, Zeichner, Musiker. Und zwar in genau dieser Reihenfolge; seine Rollen waren aber ineinander verwoben und ergänzten einander. »Mein Vater war mehr noch als alles andere ein Dichter«, so formuliert es Adam Cohen in dem sehr persönlichen Vorwort des Buches. »Das verstand er als seine Mission G-ttes. Der Gedankenstrich ist eine alte jüdische Tradition und ein weiterer Beleg für seinen festen Glauben, den er mit seiner eigenen Freiheit kombiniert hat.«
Cohen selbst wählte für das Buch, körperlich schon stark geschwächt, 63 Gedichte aus, an denen er oft über Jahrzehnte gearbeitet hatte und die er erst zum Schluss seines Lebens veröffentlichen wollte. Sie bilden den ersten Teil des Buches. Im zweiten lesen wir die Gedichte aus seinen letzten vier Alben. Der dritte Teil ist seinen Notizen gewidmet, die oft Ideen für sein poetisches Werk oder Songs enthalten. Alles ist auf Englisch zu lesen und von hervorragenden Lyrikerinnen und Lyrikern, Autorinnen und Autoren kongenial ins Deutsche übertragen.
Cohen hat immer geschrieben, zu jeder Zeit, zu jeder Gelegenheit. Wenn sein Sohn ihn um Geld für Süßigkeiten bat, antwortete Leonard dem Jungen, er solle seine Jackentaschen nach Scheinen oder Kleingeld durchstöbern. Adam fand dort unweigerlich und immer Notizbücher. Als er später bei seinem Vater ein Feuerzeug oder Streichhölzer suchte, kramte Adam in Schubläden voller Notizbücher oder Kladden. Und als der Sohn den Vater einmal fragte, ob er Tequila habe, »schickte er mich zum Kühlschrank, wo ich ein eingefrorenes, verirrtes Notizbuch fand«.
spirituell Das Schreiben, die Schrift, schuf nach alter jüdischer Tradition das Fundament seines Lebens, sagte Cohen einmal in einem Interview. Ob Notizen, Gedichte oder Gedanken, immer wieder ziehen sich jüdische Themen durch Cohens Geisteswelt. Trotz spiritueller Hinwendung zum Zen-Buddhismus und Grenzerfahrungen mit Drogen bildete das jüdische Erbe die Basis seiner Kunst.
In seinem Notizbuch »9-17« heißt es: »Was die alten Gesetze bedeuten / warum sie unterscheiden / was rein und was unrein ist / Male im Fleisch / Hat man Euch gegeben / damit ihr wissen könnt / wann ihr euch einander nähern dürft / Ich schreibe das auf der Grenze / wer darauf beharrt, dass der Vollmond neu / und der Neumond voll sein muss / Ich spreche nicht von Sünde / nur von Bereitsein und / Gastfreundschaft & der Weisheit / der Mäßigung«.
Die Weisheit der Mäßigung, die Gültigkeit der alten Gesetze, die Bescheidenheit vor Gott, all dies findet sich in Cohens Werk. So wie auch das Gegenteil: »Geboren im Herzen der Bibel & ich kenn die fromme Neigung ...«, notiert er und dreht sofort mit Heine’scher Selbstironie die eigene Gläubigkeit um: »Ich könnte Engeln Papierflügel andrehen. Ich bin ein verfluchter Hurensohn.«
Schönheit Cohens Notizen ließen sich kaum ordnen, in vielen kleinen, unscheinbaren Heften hat er über Jahre abwechselnd seine Gedanken festgehalten. Und er hat viel gezeichnet. Diese Selbstbildnisse im Alter ergänzen seine Schriften. Die scharfen Züge und Falten zeigen Vergänglichkeit, Schönheit und Melancholie.
Cohen hat einmal selbst erzählt, er sei schlagartig erwachsen geworden, als die Schoa in sein Bewusstsein drang. Eine Art Hut umgibt bei einem Porträt von 2004 seinen kahlen Kopf. »Seas of blood« steht darauf. Unter dem Kinn der Kragen: »oceans of regret«. Nicht grausam genug, so lesen wir in der Mitte, nicht einmal ansatzweise, sei die Welt mit diesem Bild umschrieben.
Die Metapher der Flammen durchzieht Leonard Cohens gesamtes Werk, sie gibt seinem Nachlass auch den Titel. »Wort der Wörter / Und Mittel aller Mittel / Geheiligt werde Dein Name / Dein Name sei gepriesen / Er steht auf meinen Herzen / In brennenden Buchstaben.«
Essenz Buchstaben brennen, Flammen verzehren. Neues entsteht. Cohens Nachlass ist die Essenz eines Lebens für die Kunst, für das Judentum, für Gott. Mit einer Erstauflage von 20.000 Exemplaren zeigt der Verlag Kiepenheuer & Witsch, welche Bedeutung er diesem Kleinod der Buchkunst zumisst.
Die Online-Frage eines Lesers in der Amazon-Kommentarspalte beweist, was Cohen-Fans ohnehin und schon immer umgetrieben hat: »Wieso hat dieser Dichter eigentlich nie den Literaturnobelpreis erhalten?«
Leonard Cohen: » Die Flamme – The Flame«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 352 S., 30 €