Vor nicht allzu langer Zeit rollten drei Debatten hintereinander über die jüdische Gemeinschaft in Deutschland hinweg. Bei der ersten ging es um ein Gedicht des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass, in dem Israel als Weltbrandstifter gekennzeichnet wurde. Im zweiten Streit wurde verhandelt, ob das Recht auf die Knabenbeschneidung weiterhin gelten soll. Die dritte Debatte drehte sich um Kolumnen von Jakob Augstein, die Spiegel Online veröffentlicht hatte. Jedes Mal stellte sich die Frage, ob man es hier mit Antisemitismus oder mit legitimer Kritik zu tun hatte.
Leider war das Buch Anti-Judaism von David Nirenberg damals noch nicht erschienen; sonst hätte man sich viel Aufregung sparen können. Nirenberg, Mediävist an der Universität von Chicago, hat einen materialreichen und brillanten ideenhistorischen Essay geschrieben, der auch für Laien leicht zu lesen ist.
Abgrenzung Er spürt darin auf 600 Seiten einer Tradition nach, die weit in die Geschichte zurückreicht. Seit Jahrtausenden, so Nirenberg, haben sich sehr verschiedene geistesgeschichtliche Schulen durch die Abgrenzung vom »Judaismus« definiert. Mit wirklichen Juden hatte diese Abgrenzung meist eher nichts zu tun, obwohl die Juden die Folgen jener Feindseligkeit oft handfest zu spüren bekamen.
Die Geschichte beginnt im Jahr 410 vor der christlichen Zeitrechnung im alten Ägypten. Bis zu jenem Jahr gab es auf der Nilinsel Elephantine in der Nähe von Assuan einen jüdischen Tempel; danach nicht mehr, er wurde zerstört. Es ist nicht klar, warum. Vielleicht galten die Israeliten, die dort opferten, als Kollaborateure der verhassten persischen Besatzungsmacht, vielleicht nahmen die Ägypter daran Anstoß, dass diese Fremdlinge jedes Jahr zu Pessach den Exodus und den Triumph über die ägyptischen Götter feierten. Sicher ist auf jeden Fall, dass seither Gerüchte in Umlauf waren, die in der antiken Welt zur dominanten Geschichtsschreibung avancierten.
Die Juden, hieß es, seien aus Ägypten nicht freiwillig ausgezogen, sondern vertrieben worden, womöglich als Pestkranke. Ihre religiösen Praktiken seien jenen der anderen Völker diametral entgegengesetzt, vor allem denen der Ägypter und Griechen. Die Juden seien nämlich Feinde alles Heiligen, alles Wahren. Wo immer sie an die Macht kämen, regierten sie als brutale Tyrannen. Und schließlich: Juden seien Misanthropen – Feinde nicht nur der Ägypter, sondern der gesamten Menschheit.
paulus Das Christentum hat diesen heidnischen Antijudaismus geerbt. Die Juden, hieß es bei Paulus, seien lediglich »Israel nach dem Fleische«, das wahre und spirituelle Israel aber die Christenheit. Die Propheten des alten Israel hätten eine Wahrheit gepredigt, die den Juden verschlossen geblieben sei, denn sie läsen die Heilige Schrift falsch; sie nähmen sie wörtlich, statt sie allegorisch auszulegen.
Das Interessante und Frappierende dabei ist nicht, dass die Christen auf die Juden herabschauten. Interessant ist vielmehr, dass die Kirchenväter ihre Gegner in den innerchristlichen Debatten häufig als »Juden« bezeichneten. Ein Vorwurf, den diese nicht auf sich sitzen ließen; sie zahlten mit gleicher Münze zurück. »Jude« hieß demnach nicht: Du gehörst dem rabbinischen Judentum an. Es bedeutete auch nicht: Du bist jüdischer Abstammung. »Jude« hieß einfach nur: Deine Interpretation der Bibel ist verwerflich, grundverkehrt, häretisch. Es gibt wohl keine frühchristliche Sekte, die in diesem Sinne nicht irgendwann als »jüdisch« gegolten hätte. Und selbstverständlich befand der Gnostiker Marcion, der das »Alte Testament« aus dem Kanon der christlichen Schriften herausbefördern wollte, die entstehende Kirche sei ein komplett jüdischer Verein.
Im Grunde dasselbe Bild sieht man, wenn man später auf den Islam schaut. Was bei den Christen der »Pharisäer«, ist in den islamischen Schriften der »Heuchler«: ein verstockter Jude, der nicht begriffen hat, dass Ibrahim, Jakub, König Daud et al natürlich Muslime waren.
spinoza Im Mittelalter kam in der christlichen Welt noch etwas Weiteres hinzu. Die Juden galten, da sie von den Königen zum Steuereinsammeln verwendet wurden, als leibhaftige Verkörperung der Tyrannei. Von da an gab es eigentlich kein revolutionäres Pamphlet mehr, in dem nicht auch die Juden zum Ziel der Polemik gemacht wurden. Die Magna Charta etwa, die als Gründungsdokument der englischen Freiheit gilt, ist in vielen Passagen eine antijüdische Polemik.
Bis hierher ist das, was Nirenberg vorbringt, zwar historisch interessant, scheint aber nicht brennend aktuell zu sein. Schließlich wurde der christliche Antijudaismus bereits gründlich aufgearbeitet. Die Magna Charta ist heute ein Stück Pergament, das im Museum besichtigt werden kann. Das Bestürzende ist aber, dass die Moderne die christliche Gewohnheit, intellektuelle Feinde in die Figur des »Juden« zu fassen, ohne Zögern übernommen hat.
Daran ist ein Mann nicht unschuldig, der als Jude geboren wurde: Baruch de Spinoza. In seinem Tractatus Theologico-Politicus interpretierte der niederländische Philosoph die menschliche Geschichte radikal neu. Es gibt keine historia sacra, keine Heilsgeschichte, erklärte er, sondern alles, was geschieht, kann aus natürlichen Ursachen erklärt werden. Das Einzige, wozu die religiösen Texte nach Spinoza gut sind: Sie können dazu dienen, die Massen zu einem vernunftgemäßen Handeln zu erziehen – wahr sind sie deswegen noch lange nicht.
Die Gegner dieses aufklärerischen Unterfangens sind bei Spinoza nicht die Katholiken, nicht die Protestanten, nicht die Muslime, sondern – die Juden. Schließlich haben sie die Idee, es gebe eine Heilsgeschichte, überhaupt erst in die Welt gesetzt. Lustigerweise galt dann ausgerechnet Spinoza jenen Christen, die über den Tractatus Theologico-Politicus hellauf empört waren, selbst als Erzjude.
aufklärung Voltaire hat Spinozas Schema im 18. Jahrhundert übernommen und auf die Spitze getrieben: Juden und Judentum galten diesem französischen Aufklärer als Chiffre der Intoleranz, des Fanatismus, des finsteren Aberglaubens – die Welt, meinte er, könne erst von der Infamie erlöst werden, wenn das »Judentum« (etwa in Gestalt der katholischen Kirche) ausgetrampelt worden sei.
Die Konstituante in Frankreich war nach der Revolution von 1789 deshalb erst einmal lange mit der Diskussion beschäftigt, ob man den Juden das Bürgerrecht geben solle. Dabei gab es damals in Frankreich außerhalb des Elsass so gut wie keine Juden. Die Obsession der Revolutionäre in Paris mit einem vollkommen fiktiven »jüdischen Problem« hat ihre Feinde – den britischen Tory Edmund Burke vorneweg – nicht daran gehindert, die Französische Revolution ihrerseits als eine jüdische Veranstaltung zu brandmarken.
Ähnlich in der deutschen Philosophiegeschichte: Kant wollte die philosophische Vernunft vom »Judaismus« befreien, dem er freundlich eine »Euthanasie« wünschte, einen schönen Tod. Das schützte ihn nicht davor, von Hegel als viel zu »jüdischer« Philosoph attackiert zu werden. Der entwickelte seine Geschichtsdialektik in scharfer Abgrenzung zu den Israeliten, die ihm als das »verworfenste« aller Völker galten, weil sie kurz vor dem Tor zum Heil stehen geblieben seien, statt hindurchzuschreiten und Christus anzuerkennen.
Hegels schärfster Widersacher Schopenhauer wiederum machte das »Judentum« für die meisten Übel in Europa verantwortlich, vor allem für die schlechte Behandlung von Tieren. Philosophischen Gegnern warf er gelegentlich vor, sie hätten einen »foetor Judaicus«, stänken also nach Judentum. Und der junge Karl Marx schrieb, die Emanzipation der Menschheit sei die »Emanzipation vom Judentum«, das für ihn der Inbegriff des kapitalistischen »Schachers« war. Und so weiter. Ad infinitum.
wirkungsmacht David Nirenberg legt Wert darauf, dass es nicht sein Ehrgeiz ist, große Denker des Antisemitismus zu überführen. Denn was diese über den »Judaismus« verzapften, hatte oft wenig zu tun mit ihrem konkreten Verhalten realen Juden gegenüber. Ein erbitterter Feind des »Judaismus« wie Hegel setzte sich dafür ein, dass jüdische Studenten dieselben Rechte genießen sollten wie ihre christlichen Kommilitonen – und zwar mit dem Argument, dass sie doch, bitte schön, Menschen seien.
Auf der anderen Seite waren die englischen Puritaner, die im biblischen Israel das Vorbild für ihr »Commonwealth« erblickten, in ihrer Mehrheit keineswegs der Ansicht, dass Juden gestattet werden sollte, sich in London niederzulassen (unter Oliver Cromwell wurde dann auch nur einem winzigen Häuflein die Zuwanderung erlaubt).
Es führt, wie Nirenberg deutlich macht, kein gerader Weg vom philosophischen Antijudaismus zur »Endlösung der Judenfrage« unter den Nazis. Allerdings wäre jene ohne diesen wohl nicht möglich gewesen. Damit kommen wir zu den anfangs angesprochenen deutschen Debatten zurück. Waren sie nun antisemitisch oder nicht?
Folgendes fällt auf: Hier wurden jeweils allgemeine Fragen verhandelt – der Weltfrieden, die Rolle der Religion in der säkularen Welt, die Menschenrechte –, und jedes Mal lautete die Antwort, dass »Israel« dem Wahren und Guten im Weg stünde, sei es als Staat, sei es als »atavistische« jüdische Religion. Just dieses Muster beschreibt David Nirenberg in seinem glänzenden Buch. Er macht deutlich, dass wir es weder mit einem Randphänomen und auch nicht mit einer deutschen Besonderheit zu tun haben.
Die Marotte, in polemischen Diskussionen mit dem Finger auf vermeintliche, eingebildete, ganz und gar erfundene Juden zu zeigen – sie muss wohl als fester Bestandteil der westlichen Zivilisation mit langer Tradition begriffen werden, mit Wirkungsmacht bis heute.
David Nirenberg: »Anti-Judaism. The Western Tradition«, W. W. Norton & Company, New York/ London 2013, 610 S., 35 $