Er trägt einen Anzug; beigefarben, aus billigem Stoff, Massenkonfektionsware, er könnte sich etwas ganz anderes leisten, etwas Teureres, vor allem etwas Repräsentatives. Doch dieser Anzug wird auf ihn wie eine zweite Haut übergehen, während er, der wohlhabende Mann aus Paris, immer mehr die Kontrolle über sein Leben verliert.
Esther dagegen hat sich für ein hellblaues Strandkleid entschieden, schulterfrei, mit dünnen, fast unscheinbaren Trägern. Kommt sie abends vom Unterricht nach Hause, zieht sie zuvor eine Bluse über das Kleid. Nicht auszudenken, was ihre orthodox lebenden Eltern denken würden, entdeckten sie das Kleid, wo sie ohnehin tief verwirrt bemerken müssen, dass ihr Kind, das sie dem Leben abgetrotzt haben, damals im DP-Camp bei München, eine erwachsene Frau geworden ist und dass es sie belügt, beispielsweise.
trauerwoche Esther und Moïse werden sich begegnen. Und Moïse, der nur kurz ins neue Land seiner Herkunftsfamilie gekommen ist, weil seine Mutter im Sterben liegt, er müsste wieder fahren zu Frau und Kind. Die Trauerwoche ist vorbei, aber er bleibt, ohne zu verstehen, warum er bleibt. Und dann ist da Alex, der junge Mann aus Buenos Aires, der einst von der Revolution schwärmte und der ebenfalls seinen Platz im Leben sucht, wo auch immer der sein könnte.
Noch ist Sommer, wir sind in Israels südlicher Küstenstadt Aschkelon, es ist das Jahr nach dem Eichmann-Prozess. Noch einmal hat alle tief erschüttert, was während der Verhandlungstage an Grausamkeiten benannt werden musste. Am ersten September wird Esther ihr Kleid gegen eine Uniform wechseln und ihren Militärdienst antreten.
In der Strandbar legt der kriegsversehrte Ascher seine Schallplatten auf. Er spielt die Hits von Paul Anka, von Adamo, die von Elvis Presley natürlich. Und die jungen Leute drängen auf die Tanzfläche; mal eng umschlungen, mal wild zappelnd, ist ihnen nach Leben zumute, nicht nach Arbeit, Pflicht und Unterordnung, während ihre Eltern so müde und erschöpft wie enttäuscht zurückbleiben. Esthers Eltern etwa: Ihr Vater zieht sich für die Nacht auf den Balkon zurück, ihre Mutter stellt im Wohnzimmer das Klappbett auf. Sie reden nicht einmal mehr miteinander.
Es gibt eine kleine Szene, sie scheint nicht wirklich wichtig für das Geschehen, da holt Esthers Mutter Fela einen Karpfen aus dem Bassin des Fischgeschäftes, das sie mit ihrem Mann betreibt. Sie schlägt dem Tier auf den Kopf, sie schneidet ihm den Bauch auf, holt mit festem Griff die Innereien hervor, dann schneidet sie das Tier in Scheiben, wickelt alles in Zeitungspapier und überreicht es dem Kunden mit besten Wünschen. Es ist einerseits eine fließende Handlung, ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Und andererseits ist da dieser kurze Moment, wo sie sich fragt: Ist alles so, wie es sein soll?
STRUDEL Gut möglich, dass man am Anfang ob der wuchtigen, manchmal fast körperlich anmutenden Schilderungen, die einen wie in einen Strudel ziehen, ein wenig irritiert und verunsichert ist. Was ist da los? Was wird passieren? Und worauf wird das alles hinauslaufen?
Aber keine Sorge: Michal Govrin ist eine wunderbare Schriftstellerin, die es versteht, die von ihr anfangs so lose ausgelegten Handlungsstränge am Ende gekonnt zusammenzuknüpfen, ohne ihnen in irgendeiner Form Gewalt anzutun. So wie es ihr gelingt, das Drama der Erwartungen der Generation der Holocaust-Überlebenden auf die ihr nachfolgenden Kinder auf großer Bühne aufzuführen, weil sie dabei auf die Kraft der Literatur vertraut und niemals fahrlässig psychologisiert.
Es ist dem Schweizer Geparden Verlag, in diesem Jahr frisch gegründet – und es ist bekanntlich ein Wahnsinn, in diesen Zeiten auf einen Buchverlag zu setzen –, nur tief zu danken, dass er mit diesem Roman die Welt betritt, dass er uns dabei mitnimmt und seinen Lesern auch etwas zutraut.
Michal Govrin: »Strandliebe«. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Geparden, Zürich 2023, 392 S., 32 €