Aus Deutschland vertrieben, in den USA ein Star, im Tessin inspiriert bis an sein Lebensende: Das Museo d’Arte Lugano, das rund zwei Dutzend seiner Arbeiten besitzt, widmet dem gebürtigen Berliner Dadaisten, Maler und Filmkünstler Johannes Siegfried Richter (1888–1976) eine umfassende Retrospektive – nein: ein Feuerwerk künstlerischer Ideen wird in der Villa Malpensata an der Seepromenade entzündet.
»Hans« Richter, wie er sich nannte, war in verschiedenen Medien zu Hause, hatte ein Sensorium für Musik. Die Schau, betitelt Der Rhythmus der Avantgarde, ereignet sich in Akkorden, wenn man so will. Den Begriff Rhythmus benutzte der Künstler selbst für Filme wie Gemälde.
visionär Die chronologisch strukturierte Schau mit rund 200 Werken und vielen Exponaten, die auf früheren Stationen der Ausstellungstournee nicht zu sehen waren, ist eine transatlantische Kooperation mit dem LACMA Los Angeles. Beteiligt ist auch das Pariser Centre Pompidou. Die für Richters Wahlheimat Tessin neu konzipierte und maßgeschneiderte Ausstellung hebt an mit einem gezeichneten Selbstbildnis von 1911, dessen suchender Strichführung der Versuch der Selbstergründung buchstäblich einbeschrieben ist.
Zu diesem Zeitpunkt hat der Sohn des Legationsrats Moritz Richter und seiner Frau Ida Gabriele, geborene Rothschild, der – von seiner Familie bestärkt und gefördert – als Jugendlicher schon künstlerisch ambitioniert war, bereits an der Berliner Akademie der Künste und der Kunstschule Weimar das Ringen der Avantgarde um zeitgemäßen Ausdruck erfahren. Arbeiter und Musiker hält er der Charakterisierung für wert, wie auch den Tod, der ihm »Im Felde der Ehre« begegnet. Eine Tuschzeichnung nennt er »Die Erde ohne Vernunft«. 1917 folgt ein »Visionäres Selbstporträt« innerhalb einer umfangreichen Reihe »Visionäre Porträts«, die originell changieren zwischen Abstraktion und Figuration, und in ihrer Deformationsfreude und verspielten Expressivität die Kunst der drei Jahrzehnte später gegründeten Künstlergruppe Cobra vorwegnehmen.
experimentalfilm 1916 war Richter in die Schweiz gegangen und wurde in Zürich, nach expressionistischem Beginn in Berlin, ein Protagonist der Dada-Bewegung. Dabei blieb er offen für Bildsprachen wie De Stijl oder den Konstruktivismus. Die Ausstellung, die seinen Werken solche von Zeitgenossen und Künstlerfreunden beigesellt, zeigt Gerrit Thomas Rietvelds »Berliner Stuhl« von 1923 ebenso wie einen 1918 von Alexej von Jawlensky gemalten »Abstrakten Kopf« und ertastet spannungsvoll ein Terrain von Referenzen.
Rund 100 Bilder Richters sollen entstanden sein, doch nicht einmal ein Zehntel ist bekannt. Die politischen Verhältnisse hatten den Verlust zahlreicher Arbeiten der 1910er- und 20er-Jahre zur Folge. 1933 drangen Nazis in Richters Berliner Wohnung ein und konfiszierten einen Großteil seines bis dahin geschaffenen Œuvres. Verloren gingen darüber hinaus zahlreiche Skizzenbücher und Zeichnungen des 1925 verstorbenen schwedischen Dadaisten und Experimentalfilmers Viking Eggeling, dem Richter auf dem Weg in die Abstraktion wichtige Anregungen verdankte. Beide faszinierte das bewegte Bild. Eggeling gilt heute als Urvater des Musikvideos, Richter als Schlüsselfigur des experimentellen Films. In der Schau läuft auch sein möglicherweise berühmtestes Werk Dreams that money can buy, mitproduziert von Peggy Guggenheim und 1947 beim Festival Venedig ausgezeichnet. Für den Film hatte Richter mit Künstlerkollegen wie Marcel Duchamp, Max Ernst und Man Ray zusammengearbeitet.
collagen Hans Richter verließ 1933 Deutschland. Ende der 30er-Jahre war er tätig für Filmstudios in Zürich und Basel, beendete 1939 sein Buch Der Kampf um den Film, das erst in seinem Todesjahr 1976 erschien. Mit einem Touristenvisum, das die amerikanische Hebrew Immigrant Aid Society besorgt hatte, erreichte Richter im April 1941 über Frankreich, Portugal und Kanada New York, wo er am Institute of Film Techniques des City College in New York zu unterrichten begann. Später leitete er das dort angesiedelte Filminstitut.
Ein Teil seines bildnerischen Werks, sagte Richter, sei inspiriert vom Widerstand gegen Hitler gewesen. Meldungen aus Zeitungen collagierte er in tagesaktuelle Bilder. Sein übermannsgroßes Hochformat »Befreiung von Paris« – in Paris hatte er 1910 an der Akademie Julian studiert –, ist gleichsam ein verdichtetes Pendant zu Volker Schlöndorffs jetzt gestartetem Kinofilm Diplomatie mit dem Unterschied, dass Richter das Thema weniger fiktiv ausschmückt. Seine abstrakte Darstellung, sagte er, drücke die Haltung von jemandem aus, der im Jubel den Arm zum Himmel reckt.
tessin Die Richter-Ausstellung ist die letzte große im Museo d’Arte Lugano, das unter des Dach des neuen Kulturzentrums Lugano Arte e Cultura (LAC) mit dem Museo Cantonale d’Arte fusioniert. Im Dezember 2015 soll das LAC fertiggestellt sein. Künftig werden dort regelmäßig auch Künstler gewürdigt, die das Dritte Reich der Schweiz in die Arme trieb. Ohne die Nazis wäre das Tessin ein weit weniger reiches Kunstpflaster. Die immer besser erforschten Exilkünstler, die die deutsche Geschichte einst an die sicheren Schweizer Seeufer flüchten ließ, erlauben hier exzeptionelle Kunstbetrachtungen. Programmatisch trägt deshalb die Eröffnungsschau, mit der das LAC gleich zum Auftakt seine Schnittstellenfunktion untermauern will, den Arbeitstitel »Transit«.
Die letzten 20 Jahre seines Lebens verbrachte Richter großenteils im Tessin. Dort starb er 1976, kurz vor seinem 88. Geburtstag, in der Gemeinde Minusio, wo sich das Grab von Stefan George befindet, zu dessen Beerdigung 1933 der spätere Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg angereist war. Dem LAC dürften die Themen nicht ausgehen.
»Hans Richter: The Rhythm of the Avantgarde«. Museo d’Arte Lugano bis 23. November www.mdam.ch