Als der 7. Oktober 2023 noch in weiter Ferne lag, stellte die Europäische Kommission im März des vergangenen Jahres einen Expertenbericht vor, der europaweit ein Fehlen akademischer Strukturen, die jüdische Gegenwartsforschung betreffend, nachwies. Diese Forschung, die sich mit lebenden Jüdinnen und Juden in ganzer Bandbreite befasst, muss endlich an Universitäten in Deutschland und an Hochschulen in anderen Ländern der EU mit einem Lehrstuhl vertreten werden. Es ist an der Zeit, dass sich etwas ändert!
Nur sehr wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen durchgängig in diesem Gebiet, meist in Disziplinen, die diesbezüglich nicht als »Standort jüdischer Gegenwartsforschung« wahrgenommen werden. Dies liegt daran, dass die Denominationen ihrer Lehrstühle andere sind: Sie lauten eben nicht »Professur für Jüdische Gegenwartsforschung«. Dies bedeutet, dass ein riesiger Wissensschatz überhaupt nicht aufgebaut und auch nicht an den wissenschaftlichen Nachwuchs weitergegeben werden kann.
Dieses Fehlen spiegelt einen generellen Trend wider: »De facto scheint es, dass in vielen Orten jüdische Studien eine Disziplin sind, die sich vorrangig mit jüdischer Geschichte, jüdischen Texten und jüdischen Sprachen und Literatur befasst, statt mit der gegenwärtigen gelebten jüdischen Realität«, so der Bericht der Europäischen Kommission.
Auf materielles Vorkriegs-Kulturerbe reduziert
Der nahezu alleinige Fokus auf jüdische Geschichte oder Philologie hat zur Konsequenz, dass selbst interessierte Studentinnen und Studenten kaum ihren Wissensdurst über gegenwärtige jüdische Lebenswelten – im Plural – stillen können. Zudem werden Jüdinnen und Juden festgefroren in der Zeit, oft in der Zeit vor der Schoa, oder auf ihr materielles Vorkriegs-Kulturerbe reduziert. So entstehen vereinfachte Vorstellungen über Jüdinnen und Juden, wobei die Toten die Lebenden überschatten. Dieser Zustand ist nicht neu.
Schon 1965 hat die Politikwissenschaftlerin Eleonore Sterling zu Recht bemängelt, dass die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden ignoriert werden. Der für scharfe Kritik bekannte Soziologe Alphons Silbermann fügte 1974 hinzu, dass insbesondere nichtjüdische Forscherinnen und Forscher sich mit Mikrodetails der Schoa befassen, um sich eben nicht mit den lebenden Jüdinnen und Juden und den Folgen der Schoa für sie beschäftigen zu müssen. Der Publizist Richard Chaim Schneider argumentierte 2005 ähnlich. Und nun, noch eine Generation später, stellen meine Projektpartnerin Sarah M. Ross und ich fest, dass sich am Fehlen der jüdischen Gegenwart in der Forschungslandschaft nichts geändert hat.
Die Projektförderung ist mäßig, wobei der Fokus meist auf Antisemitismus liegt, also auf Schadensbegrenzung. Es ist jedoch nicht ersichtlich, wie dieser »Schaden« in letzter Konsequenz tatsächlich behoben werden kann. Es gibt keine Strukturförderung für eine sozialwissenschaftlich und kulturanthropologisch ausgerichtete jüdische Gegenwartsforschung. Die weit verbreitete Ansicht, dass die Jüdischen Studien und Judaistik in Deutschland alle Aspekte des jüdischen Lebens abdecken, von der Antike bis zur Gegenwart, ist schlichtweg falsch.
Das Fehlen der jüdischen Gegenwartsforschung lässt sich historisch nachzeichnen.
Bis heute können diese keinen durchgängigen und nachhaltigen Forschungsschwerpunkt in Bezug auf die Erforschung gegenwärtiger jüdischer Lebenswelten nachweisen. Das Fehlen der jüdischen Gegenwartsforschung lässt sich historisch nachzeichnen. Nach 1945 gab es in Deutschland nur noch extrem wenige Jüdinnen und Juden. Die wenigsten von ihnen hatten Interesse daran, sich von nichtjüdischen, deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erforschen zu lassen. Jüdische Forscherinnen und Forscher, die sich jüdischen Themen widmeten, waren extrem selten. Silbermann und Sterling waren die Ausnahme.
Themen wie Trauma, Tradierung, lebendes Kulturerbe und Gemeindestudien
Eine Generation später war die Anzahl in Deutschland lebender jüdischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler etwas größer geworden. Sie befassten sich mit Themen wie Trauma, Tradierung, lebendem Kulturerbe und Gemeindestudien. Damit deckten sie erstmals nach 1945 auch die Interessen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ab.
Ein Muster in der deutschen Wissenschaftslandschaft lässt sich hier bereits überdeutlich erkennen: Jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler widmeten sich lebenden Jüdinnen und Juden, ihre nichtjüdischen Kolleginnen und Kollegen erforschten jüdische Themen, für die es weder der Anwesenheit noch des direkten Austauschs mit Jüdinnen und Juden bedurfte.
Auch wenn sich heute mehr nichtjüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler denn je für jüdische Gegenwartsthemen interessieren, ändert dies nichts an der Tatsache, dass auch diese, ganz gleich welcher Herkunft und unabhängig von ihrem Forschungsgegenstand, immer vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biografien forschen. Die Forschungsfragen, die sie entwickeln und stellen, sind immer von ihrer Biografie geprägt.
Es gibt viel Forschung zu toten Juden. Zeit, in die Forschung zu lebenden Juden zu investieren!
Das bedeutet jedoch nicht, dass nur Juden über Juden und Nichtjuden über Nichtjuden forschen sollen und eine identitätspolitisch basierte Forschung etabliert werden sollte. Eine solche Vorgehensweise würde den akademischen Diskurs zum Erliegen bringen. Tony Judt hat bereits 2010 zu diesem Thema klare Worte gefunden: »Identität ist ein gefährliches Wort«, wenn sie, wie er es ausdrückt, »biologisch festgelegt« ist und den einzigen Orientierungspunkt für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darstellt.
Identität muss reflektiert werden, und damit einhergehend auch das Fehlen der jüdischen Gegenwartsforschung. Insbesondere Letzteres würde lebenden Jüdinnen und Juden, über deren Identitäten (!) in der Gegenwartsgesellschaft wenig bekannt ist, sehr zugutekommen. Denn die bisherige, strukturell verankerte jüdische Gegenwartsforschung ist lediglich ein Patchwork und nicht in der Lage, Wissenslücken zu schließen, die darüber hinaus auch in der breiten Bevölkerung bestehen.
Krude Stereotype über Jüdinnen und Juden
Manche wollen mehr wissen, andere halten an kruden Stereotypen über Jüdinnen und Juden fest. Es ist an der Zeit, dass endlich flächendeckend und institutionalisiert gearbeitet wird, um forschungsbasiertes Wissen an Studierende weiterzugeben. Diese fungieren als Multiplikatoren in der Gesellschaft und geben das Wissen über die jüdische Gegenwart an ihren Arbeitsplätzen und auch in anderen sozialen Räumen und Zusammenhängen weiter. Nur so kann sich etwas ändern.
Dieser Zustand ist der deutschen Politik und Verwaltung bekannt. Seit Jahren weisen wir als Wissenschaftlerinnen darauf hin und ebenso auf die damit einhergehenden Konsequenzen. Was wir nach dem 7. Oktober 2023 an Universitäten und Hochschulen sehen, hat uns nicht überrascht, aber es hat uns geschockt. Wir haben wiederholt auf den strukturbedingten Wissensmangel über lebende Jüdinnen und Juden hingewiesen und was dieser für sie in der Praxis bedeutet.
Das Bundesministerium des Innern und für Heimat sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung haben unser Anliegen, in die jüdische Gegenwartsforschung zu investieren, jedoch budgetbedingt abgelehnt. Man hat uns abermals darauf hingewiesen, dass es doch Forschung zu Jüdinnen und Juden gebe. Dabei übersah man jedes Mal, dass es sich einmal mehr um Forschung zu toten Jüdinnen und Juden handelt. Es ist höchste Zeit, dass in die Forschung zu lebenden Jüdinnen und Juden investiert wird.
Wenn das nicht bald geschieht, könnte es passieren, dass die jüdische Zukunft, das heißt die jüdische Jugend von heute, sich aus dem Land der Toten verabschiedet. Emigration wird offen diskutiert, ebenso wie die Tatsache, dass die jüdische Gegenwart die jüdische Zukunft in Deutschland maßgeblich bestimmt: Nur müsste diese endlich wahrgenommen und erforscht werden.
Dani Kranz ist Professorin am DAAD Humboldt Lehrstuhl am Colegio de Mexico in Mexico City. Sie ist Vorsitzende von Präsenzen – Netzwerk jüdische Gegenwartsforschung e. V. und arbeitet als angewandte Anthropologin und Direktorin von »Two Foxes Consulting« (Deutschland).