Drogen sind Modeerscheinungen. Was nahm man im »Dritten Reich«? Diese Frage wurde erstaunlicherweise bisher kaum beachtet, obwohl bereits im Kaiserreich die Firmen Merck und Boehringer zu Weltmarktführern im Handel mit Kokain und Morphium aufgestiegen waren.
»Machtwechsel heißt Substanzenwechsel«, formuliert Norman Ohler in seinem Buch Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich schmissig. Tatsächlich setzte mit der »Machtergreifung« 1933 eine öffentliche Wende der Drogenpolitik und härteste Restriktion ein. Offiziell waren dem »deutschen Volkskörper« Drogen als »Einbruchstellen internationaler Lebensideale« und »jüdischer Infektion« verboten. Das Reichsgesundheitsamt postulierte eine »Pflicht zur Gesundheit«. »›Verführungsgifte‹ hatten in einem System, in dem allein der Führer verführen sollte, keinen Platz mehr«, schreibt Ohler.
Stimulanz Antidrogenpolitik und antisemitische Hetze gingen ineinander über: Dem politisch korrekten, sozial erwünschten Umgang mit dem eigenen »germanisch-deutschen« Körper, der als »Träger des ewigen Erbgutes« »dem Volk gehört«, wurde die »marxistisch-jüdische« Auffassung »Dein Körper gehört dir« entgegengestellt. So wurden »rassefremde Rauschmittel« im NS-Staat verdammt.
Zugleich erlebte, wie Ohler zeigt, bald anderes ganz neue Konjunktur: synthetische Stimulanzien, allen voran das Methamphetamin, das 1937 entwickelt unter dem Markennamen Pervitin auf den Markt kam und per Werbekampagne propagiert wurde. Dem Zeitgeist entsprechend als »Stimulanz für Psyche und Kreislauf«, eine anti-resignative Selbstbewusstseinspille, die »gegen Miesmacher und Nörgler« Aufgewecktheit und Lebensfreude versprach – eine leistungssteigernde Modedroge, die dem hochtourigen Selbstbild der NS-Leistungsgesellschaft entsprach.
Ohler schreibt: »Ob es Sekretärinnen waren, die damit schneller tippten, Schauspieler, die sich vor der Vorstellung auffrischten, Schriftsteller, die die Stimulanz des Methamphetamins für klare Nächte am Schreibtisch nutzten, oder Arbeiter an den Fließbändern der großen Fabriken, die aufgeputscht ihren Ausstoß vergrößerten – Pervitin verbreitete sich in allen Schichten. ... ›Deutschland, erwache!‹, hatten die Nazis gefordert. Methamphetamin sorgte dafür, dass das Land wach blieb.« Die Pointe: Pervitin ist substanzgleich mit dem heute illegal produzierten Crystal Meth – einem der gefährlichsten Rauschgifte der Gegenwart.
Ohler ist kein Fachhistoriker und kann auf rund 300 sehr süffig geschriebenen Seiten nicht alles leisten. Er suggeriert das auch nicht. Alkohol, Tabak und sacht Aufputschendes wie Kaffee werden völlig ausgeblendet, auch die Kapitel zur Vorgeschichte kann man getrost überspringen.
pervitin Massenhaft wurde Pervitin im Krieg eingesetzt. Die Wehrmacht hatte das Mittel noch vor Kriegsbeginn umfangreich getestet. Allein 35 Millionen der Wachmacher-Pillen wurden dann vor dem Westfeldzug 1940 verteilt. »Blitzkrieg ist Metamphetaminkrieg«, formuliert Ohler etwas zu süffig, denn so wenig bekannt diese Fakten sind, hätte man hinzufügen können, dass auch die Truppen der Gegner keineswegs drogenfrei in den Kampf geschickt wurden. Auf die Euphorie folgte der Burn-out, die Dosen wurden gesteigert, und bis zum Ende blieb der Konsum von Stimulanzien die Regel in der deutschen Armee.
Der zweite Schwerpunkt von Ohlers Streifzug betrifft die Drogengeschichte der NS-Führungsspitze. Neben Seitenblicken auf andere führende Nazis steht Adolf Hitler ganz im Zentrum. Dessen Propagandabild als entsagender Abstinenzler, der nicht einmal Kaffee trinkt, hat nie gestimmt. Bereits Mitte der 30er-Jahre bekam Hitler von seinem »Leibarzt«, dem Berliner Prominentendoktor Theodor Morell, regelmäßige, mit Aufputschmitteln versetzte Vitaminspritzen. Bald kamen härtere Medikamente hinzu.
junkie Aus Hunderten kryptisch zusammengekritzelten Notizen Morells, in denen immer nur von »Patient A« die Rede ist und Substanzen oft als »X« kodiert werden, rekonstruiert Ohler die Drogenkarriere Hitlers. Der Konsum nahm ab Ende 1941, der »Winterkrise« im Ostfeldzug, die mit dem Kriegseintritt der USA zusammenfiel, gravierend zu. Hitler wurde zum Junkie. Auf klassische Dopingmittel wie Steroide folgte das Opioid Eukodal, ein, so Ohler, »Cousin des Heroins«.
Ohler versucht so, die »Bunkermentalität« Hitlers zu erklären, die zunehmenden Scheinwelten, in die dieser sich zurückzog und die ihn für seine Untergebenen unansprechbar machten. Auch in der schlimmsten Frontkrise fühlte sich der Führer dank Drogen gut. An der Verantwortlichkeit für seine monströsen Taten und seiner Schuld, auch das macht Ohler klar, ändert dies alles nichts.
Ohlers sehr gut lesbares Buch, bewusst aus »unkonventioneller, verzerrter« Perspektive (Ohler) geschrieben, wirft Licht auf einen bisher übersehenen Aspekt des Nationalsozialismus. Der Band besticht nicht durch eine neue Sicht, sondern durch viele, nicht nur anekdotisch bemerkenswerte Details.
Norman Ohler: »Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 368 S., 19,99 €