Am Anfang sieht man eine Hand. Sie gehört Adolf Eichmann. Der Leiter des »Judenreferats« im Reichssicherheitshauptamt verteilt im Film Die Wannseekonferenz im Konferenzraum Tischkärtchen.
Wenig später fahren dunkle Limousinen vor der Villa am Großen Wannsee vor: 15 hochrangige Nationalsozialisten und eine Protokollantin kommen am 20. Januar 1942 zusammen, um bei einer »Besprechung mit anschließendem Frühstück« die Organisation des längst begonnenen Massenmordes an den europäischen Juden abzustimmen.
TISCHKÄRTCHEN Das ZDF hat mit Oliver Berben als Executive Producer, Matti Geschonneck als Regisseur und Magnus Vattrodt als Drehbuchautor einen Film über das mörderische Beamtentreffen gedreht. Es ist ein ambitionierter Film: In den ersten Minuten werden die Tischkärtchen hin- und hergerückt und die Teilnehmer der Besprechung kurz eingeführt. Doch auch für Zuschauer, denen zumindest die Hauptpersonen ein Begriff sind, ist es so gut wie unmöglich, sich auf Anhieb zu merken, welches Gesicht zu welchem NS-Verbrecher gehört.
Auf Musik wurde bewusst verzichtet. Damit ist Die Wannseekonferenz einer der wenigen Filme über die Schoa, bei dem im Hintergrund keine Streicher ertönen. »Für mich war eine Voraussetzung, dass der Film keine Musik hat. Das war eine intuitive Bitte von mir, als ich mich entschied, diesen Film als Regisseur zu machen. Musik kann eine förderliche, in jedem Fall eine sehr manipulative Wirkung haben. Musik verführt!«, erklärt Regisseur Matti Geschonneck.
Der Verzicht ist richtig und konsequent – so richtet sich die Aufmerksamkeit ungefiltert auf die euphemistische Sprache und den Zynismus, mit dem Massenmord als »Endlösung« umschrieben wird und Tatorte als »Endlösungsräume«. »Es ist eine sehr ausweichende und indirekte und sehr brutale Sprache«, so Drehbuchautor Magnus Vattrodt.
Auf Musik hat die Regie bewusst verzichtet. Der Fokus liegt auf der Sprache.
Ihm ist offenbar bewusst, dass sich der Film damit nicht gleich auf Anhieb erschließt: »Diese ganze Sprache ist am Ende wie eine Sound-Collage, in die man am Anfang durchaus ein bisschen schwer reinfindet, die aber einen starken Sog entwickelt.«
STATIK Einigen Sog entwickelt auch die Handlung, obwohl die statische Situation am Konferenztisch nur kurz aufgebrochen wird. Etwa, wenn Cognac und Kaffee nachgeschenkt werden, oder durch kleine Extra-Besprechungen, die Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, mit einigen Teilnehmern in einem separaten Zimmer führt.
Bei der historischen Wannsee-Konferenz war Heydrich Hauptredner. Im Film kommen alle Teilnehmer ausführlich zu Wort, um einen Einblick in das Kompetenzgerangel zwischen den Vertretern von Reichssicherheitshauptamt, SS, SD, Einsatzgruppen, Reichskanzlei, Außenministerium, Innenministerium, Rasse- und Siedlungsamt und anderen Behörden zu geben. Das macht es dem Zuschauer leichter, das Unfassbare nachzuvollziehen – denn Konferenzen, auch wenn sie heute natürlich anders verlaufen, kennt fast jeder aus seinem eigenen Berufsalltag.
Nicht alle Dialoge sind historisch belegt: »Vieles von dem, was die Figuren sagen, wurde mit Sicherheit nicht bei der Wannsee-Konferenz gesagt, aber von anderen Herren und in anderen Zusammenhängen«, sagt Drehbuchautor Vattrodt. Keiner der Konferenzteilnehmer sei eine »dramatische Figur, wie man das aus dem Film sonst kennt. Die 15 Leute sind sich ja vollkommen einig und haben Konflikte nur auf administrativer und bürokratischer Ebene.« Auch die Sitzordnung ist nicht überliefert: Eichmann nimmt (anders als im Vorgängerfilm von 1984) am »Katzentisch« Platz, um mit der Protokollantin für eine akkurate Niederschrift zu sorgen.
MIMIK Historische Erkenntnisse seit 1984, so die Filmemacher, seien in die Neuauflage eingeflossen. Die Wannseekonferenz von 2022 lebt vor allem von der ausgeprägten Mimik und Gestik der Schauspieler bei den Machtspielchen am Konferenztisch – und die gibt es nicht zu knapp. Philipp Hochmair verkörpert einen jovialen, charismatischen und zynischen Heydrich, der seinen Führungsanspruch beim Judenmord auf ganzer Linie durchsetzen kann. Jakob Diehl überzeugt als kurz geschorener Gestapo-Chef Heinrich Müller mit dämonischem Blick.
Historische Erkenntnisse seit 1984, so die Filmemacher, seien in die Neuauflage eingeflossen.
Simon Schwarz spielt einen freundlichen Unterstaatssekretär Martin Luther im Auswärtigen Amt, der bereitwillig die Kompetenzen seiner Behörde zugunsten der »Endlösung« aufgibt. Godehard Giese punktet als Prinzipienreiter Wilhelm Stuckart, der als Staatssekretär im Innenministerium auf die Einhaltung der von ihm mitformulierten Nürnberger Gesetze pocht.
Grotesk wird es, wenn ein blasser Adolf Eichmann (Johannes Allmayer) aufgefordert wird, doch für ein besseres Betriebsklima zu sorgen, woraufhin die Protokollantin der Konferenz (Lilli Fichtner als Ingeburg Werlemann) beflissen versichert, in Eichmanns Judenreferat habe man »viel Spaß«, und es werde mehr gelacht als in anderen Abteilungen.
DYNAMIK Besondere Dynamik entsteht durch die Figur von Friedrich Wilhelm Kritzinger, Ministerialdirektor und später auch Staatssekretär der Reichskanzlei, der nach dem Krieg als einziger Teilnehmer den verbrecherischen Charakter der Konferenz bestätigte. Kritzinger (Thomas Loibl) bringt im Film als Einziger Skrupel zum Ausdruck über die Erschießung von Frauen und Kindern – wobei es ihm, wie er versichert, nicht um die Juden geht, sondern um die Psyche der deutschen Soldaten. »Beruhigt« wird Kritzinger durch die Aussicht auf industriellen Massenmord durch Gas, an dem sich Deutsche nur am Rand beteiligen müssten.
Das Unfassbare abbilden: Der TV-Film des ZDF ist ebenso preiswürdig wie der Vorgängerfilm von 1984. Von Vorteil wäre es allerdings, den Film in der Mediathek zu sehen – und die ersten 20 Minuten am besten zweimal. Wer sich dann auf die »Sound-Collage« der Schreibtischmörder einlässt, wird vielleicht auch den ganzen Film mehr als einmal sehen wollen.
Der Film » Die Wannseekonferenz« wird am 24. Januar um 20.15 Uhr im ZDF gezeigt. In der Mediathek des Senders ist er bereits verfügbar.