Thriller

Cohen und die Mafia

»Maror« von Lavie Tidhar dreht sich um einen korrupten Polizisten in Tel Aviv

von Katrin Diehl  06.10.2024 07:36 Uhr

Bisher eher für Fantasy und Science-Fiction bekannt: Lavie Tidhar wurde 1976 in Israel geboren. Foto: privat

»Maror« von Lavie Tidhar dreht sich um einen korrupten Polizisten in Tel Aviv

von Katrin Diehl  06.10.2024 07:36 Uhr

Thriller haben klar definierte Zutaten. Sie müssen Spannung im Übermaß, schockierende Gewalt sowie Angst und Schrecken liefern, und das, wenn möglich, alles im Übermaß. Als literarisches Genre ist das eine Sache, als filmisches eine andere. Denn das Tempo, mit dem oftmals durch den Plot gejagt wird, und die gerne krassen, überplastischen Beschreibungen funktionieren auf sehr unterschiedliche Weise. Dabei scheint mancher Thriller-Autor unter dem starken Eindruck der Mittel und Möglichkeiten des Films zu stehen. Er schreibt an ihnen entlang. Es entstehen Bücher, die eigentlich lieber Film wären.

Seit dem 7. Oktober 2023 sehen und lesen wir aber anders, weil es Bilder gibt, die wir nicht mehr aus unseren Köpfen verbannen können. Wir erliegen anderen visuellen Empfindlichkeiten und neuen Assoziationsketten als vorher. So stehen viele Action-Szenen, wie wir sie zum Beispiel aus der Serie Fauda kennen, in einem ganz anderen Kontext. Die bewusste Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität funktioniert nur noch zum Teil, ebenso der Versuch, durch künstlich erzeugte Spannung zu einer wirklichen Entspannung zu finden.

»Ma­ror« ist das hebräische Wort für die bitteren Kräuter beim Pessach-Seder

Ähnliches gilt für den Politthriller Maror von Lavie Tidhar, der 2022 im Original auf Englisch erschienen ist und inzwischen auch auf Deutsch vorliegt. Der Titel Ma­ror ist das hebräische Wort für die bitteren Kräuter, die man beim Pessach-Seder essen soll. Mit diesem Buch hat der Erfolgsautor, der eigentlich eher im Bereich Science-Fiction und Fantasy zu Hause ist, ein neues Genre erschlossen. Das begründet der mit Auszeichnungen schon reichlich Bedachte augenzwinkernd damit, dass er so Aussichten hat, zusätzlich in einer weiteren Kategorie Preise einzuheimsen.

Die Story beginnt, wie sollte es anders sein, mit Sex und einer Autobombe.

»Werde ich dafür einen Booker bekommen?«, überlegte der 1976 in Israel geborene Autor, der heute in London lebt. Seine Thriller-Trilogie, die mit Maror beginnt, arbeitet sich entlang der Geschichte Israels. Sie beginnt mit den Nullerjahren und bewegt sich dann immer weiter rückwärts in die Vergangenheit. Während Maror die Jahre 1974 bis 2008 umspannt, deckt der zweite Band, den es bereits auf Englisch gibt und der den Titel Adama – das hebräische Wort für Erde – trägt, den Zeitraum zwischen 1940 bis 2000 ab.

In Adama geht es über mehrere Generationen hinweg um das Leben einer Familie in einem Kibbuz. Tidhar selbst ist in einem Kibbuz im Norden Israels aufgewachsen, bevor es ihn als jungen Mann in die weite Welt zog. Seine Großeltern sind Schoa-Überlebende, die Mutter kam in einem Lager für Displaced Persons in Deutschland zur Welt. Ins Hebräische werden Tidhars Bücher so gut wie nicht übersetzt, gelesen werden sie in Israel trotzdem gern. Eine deutsche Übersetzung von Adama dürfte nur eine Frage der Zeit sein.

Den zionistischen Traum wahr werden lassen

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Ruth, eine vor den Nazis aus Ungarn nach Palästina geflüchtete Jüdin, die tatkräftig dabei mithilft, den zionistischen Traum wahr werden zu lassen. Vor ihren Augen entsteht ein Land mit Bauern, Arbeitern, Soldaten und Gelehrten – aber eben auch und von Anfang an mit Lügnern, Dieben, Mördern, mit Prostitution und einer korrupten Polizei. Realität ist wohl nicht anders zu haben, und Israel scheint eben auch nur ein ganz normaler Staat zu sein. Ruth wird auf harte Art mit den Realitäten konfrontiert, Ruth wird auf harte Art mit dem Leben konfrontiert.

Im dritten Band, der den Titel Six Lives trägt und der Ende August auf Englisch erschienen ist, geht es unter anderem um eine Fahrt auf der »Titanic« sowie einen KGB-Agenten. Das Buch beginnt im Jahr 1855, als ein jüdischer Staat noch in weiter Ferne lag und Palästina zum Osmanischen Reich gehörte.

Aber zurück zu Maror, dessen Bitternis darin besteht, dass es die Perspektive des organisierten Verbrechens ist, von der aus die israelische Geschichte erzählt wird. Die Story beginnt, wie sollte es anders sein, mit Sex und einer Autobombe. »Als das Telefon klingelte, lag Avi mit Natasha im Bett«, lautet der erste Satz. Der Sprengsatz geht im Tel Aviv des Jahres 2003 hoch und galt einem gewissen Rubenstein, einem Kleinkriminellen, der es zum Mafiaboss gebracht hat. Sie verfehlt ihr Ziel, Rubenstein überlebt, dafür sterben einige Schulkinder.

Grenzen zwischen Gesetzeshütern und Unterwelt

Breitbeinige wie auch großmäulige Männer bestimmen in Maror die Geschichte, die von Verbrechen zu Verbrechen taumelt, wobei die Grenzen zwischen Gesetzeshütern und Unterwelt sich ebenso auflösen wie die zwischen jüdischen und arabischen Kriminellen.

Im Mittelpunkt der opulenten Geschichte stehen Cohen, ein skrupelloser Chef­inspektor der israelischen Polizei, der gerne aus der Tora zitiert und allen damit gehörig auf den Geist geht, sowie Avi. Ihn hat sich Cohen als Ermittler an Land gezogen, weil Avi ein Mann ohne Gewissen ist und einfach alles macht, was man ihm aufträgt.

Es dominieren breitbeinige und großmäulige Männer.

Generell wird grob chronologisch erzählt. Mord, Drogen und Korruption – alles geschieht parallel nebeneinander, alles scheint miteinander verwoben. Das Resultat sieht wie eine schmutzige, stinkende und vor sich hinblubbernde Sauce aus, die einen sowohl in ihren Bann zieht als auch abstößt. Große Namen werden genannt, darunter Golda Meir oder Yitzhak Rabin. Auf diese Weise werden Verbindungen zu historischen Ereignissen erzeugt, um die der Thriller stark schaukelnd, krachend und schwankend zirkuliert.

Es geht um Vergewaltigungen in den höchsten politischen Kreisen, um Frauen­leichen am Strand von Tel Aviv – Fälle, die dazu verleiten könnten, Maror als eine Art Schlüsselroman zu lesen, was aber gelegentlich diametral zum Thriller-Feeling stehen kann, das sich einstellen soll.

Tidhar formuliert gnadenlos genre-gemäß. Wie er Tel Aviver Stadtszenen beschreibt, ist so vorhersehbar wie typisch. Mit Maror wird er allen Erwartungen mehr als gerecht. An ein paar wenigen Stellen stimmt der Text sogar ein wenig nachdenklich. Und wenn Cohen am Ende des Buches seine kleine Enkeltochter hält und sagt: »Ich liebe dieses Land«, dann weiß man nicht so richtig, was ihm dabei durch den Kopf geht.

Lavie Tidhar: »Maror«. Thriller. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp, Berlin 2024, 639 S., 22 €

Essay

Erinnerung an M.

Vor einem Jahr wurde meine Bekannte beim Nova-Festival ermordet. Was wäre geschehen, wenn die Hamas sie nach Gaza verschleppt hätte? Tut Israels Regierung alles, um die Geiseln zu befreien?

von Ayala Goldmann  06.10.2024

Fernsehen

Er ist nicht Leonard Cohen und sie ist nicht Marianne

Warum eine Serie über die legendäre Lovestory von Leonard Cohen und Marianne Ihlen scheitern musste

von Maria Ossowski  02.10.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Champagner, Honig oder beides? Wie Rosch Haschana gelingt

von Nicole Dreyfus  02.10.2024

Zahl der Woche

72 Granatäpfel

Fun Facts und Wissenswertes

 02.10.2024

Aufgegabelt

Granatapfel-Gelee

Rezepte und Leckeres

 02.10.2024

Kolumne

Anwesenheit zählt

Eine Agnostikerin in der Dohány-Synagoge in Budapest

von Ayala Goldmann  01.10.2024

Meinung

Cem Özdemir, Diskursganoven und worüber eben doch gesprochen werden sollte

Ein Gastbeitrag von Rebecca Schönenbach

von Rebecca Schönenbach  01.10.2024

Gespräch

»In einer Welt ohne Israel kann ich nicht leben«

Leon Kahane über destruktive Dynamiken, Erlösungsfantasien und Antisemitismus im Kunstbetrieb

von Eugen El  01.10.2024

Literatur

Dana Vowinckel bekommt Buchpreis »Familienroman 2024«

Sie wird für ihren ersten Roman »Gewässer im Ziplock« ausgezeichnet

 30.09.2024