Jedes Mal, wenn ich in Frankreich bin und dort frühstücke, fällt mir Goethe ein. Er hat 1792 in seiner Schrift Campagne in Frankreich trefflich beschrieben, was Deutsche von ihren westlichen Nachbarn trennt: »Weiß und schwarz Brot ist eigentlich das Schibboleth, das Feldgeschrei zwischen Deutschen und Franzosen.«
Schibboleth ist ein hebräisches Wort. Im Tanach (Sefer Schoftim – Buch der Richter 12,5-6) wird es als militärisches Codewort im Krieg der Gileaditer gegen die Efraimiter überliefert. 42.000 efraimitische Flüchtlinge wurden an den Jordan-Furten niedergemacht, weil sie Schibboleth, das »Ähre«, aber auch – wie in diesem Kontext – »Gewässer« bedeutet, fälschlich als »Sibboleth« aussprachen. (Genau genommen schrieben die Gileaditer sch-b-l-t, sprachen es aber – wie im Englischen »think« – mit stimmlosem dentalen Reibelaut, den die Efraimiter durch den s-Laut ersetzten.)
ptersilien-Massaker Folgenreiche Phonetikfehler werden auch aus anderen Kriegen berichtet. 1281 fanden in Palermo bei der sogenannten Sizilianischen Vesper 2.000 Franzosen, die als Besatzer galten, den Tod. Man identifizierte sie, weil sie die C-Laute in den Wörtern cece (Kichererbse) und chicchi (Bohne, Ährenkorn) nicht italienisch korrekt aussprechen konnten.
Im Zweiten Weltkrieg erkannten niederländische Widerstandskämpfer feindliche Infiltranten an der Aussprache der Stadt Scheveningen: Statt »S-cheveningen« zu sagen, verrieten sich die Deutschen durch ein anlautendes »Sch«. Und im finnisch-sowjetischen Winterkrieg 1939/40 lautete die Erkennungsparole der Finnen »Karjala« (Karelien), das russische Soldaten stets falsch »Karelija« aussprachen.
Ein besonders düsteres Beispiel eines Schibboleths nennt Marion Tauschwitz in ihrer Hilde-Domin-Biografie Dass ich sein kann, wie ich bin. Die Poetin, die sich Domin nannte seit sie 1951 in Santo Domingo zu dichten begann, hatte, wie andere europäisch-jüdische Flüchtlinge, von dem rassistischen Diktator Trujillo Exil in der Dominikanischen Republik bekommen, weil er hoffte, so sein Volk »aufzuweißen«.
Sprachtest Zu diesem Zweck griff Trujillo, wie Tauchwitz berichtet, auch zu extrem blutigen Mitteln, wie beim berüchtigten »Petersilien-Massaker«, das er an der Grenze zum französischsprachigen Haiti veranstalten ließ: »Um die schwarzhäutigen Wirtschaftsflüchtlinge aus Haiti von der helleren dominikanischen Bevölkerung zu selektieren, hatte der Diktator einen perfiden ›Sprachtest‹ anordnen lassen.
Das gerollte ›R‹ im spanischen Wort für Petersilie, perejil, konnte von der französischsprachigen, dunkelhäutigen Bevölkerung nur als ›L‹ gesprochen werden. Wer also das Wort nicht spanisch artikulierte, wurde umgehend mit der Machete ermordet.«
Zum Glück gibt es auch harmlosere Schibboleths. Selten bringen Nichtmuttersprachler das deutsche Wort »Streichholzschächtelchen« korrekt über die Lippen. Wer am alemannischen »Chuchichäschtli« (Küchenschränkchen) scheitert, ist für Schweizer ein Horst oder Uwe aus dem »großen Kanton«.
Für »Preißn« in Bayern ist der »Oachkatzlschwoaf« eine Hürde, Bajuwaren stolpern beim plattdeutschen Wort für Eichhörnchenschwanz: »Eekkattensteert.« Und wer jüdischen Freunden im Dezember schöne Feiertage wünschen will, sollte das Lichterfest Chanukka immer auf der ersten Silbe betonen – CHAnukka; wer stattdessen von ChaNUkka spricht, weckt den Verdacht, dass seine Kenntnisse des Judentums nur oberflächlich angelesen sind.
Christoph Gutknecht ist Autor des Buchs »Lauter böhmische Dörfer: Wie die Wörter zu ihrer Bedeutung kamen« (C. H. Beck 2009).