Rezension

Chronologie des Grauens

Wie ein Buch über den Krieg in der Ukraine ein literarisches Mahnmal wird

von Daniel Killy  23.05.2023 22:12 Uhr

Arye Sharuz Shalicar ist ein literarisches Mahnmal gegen den Krieg geglückt.

Wie ein Buch über den Krieg in der Ukraine ein literarisches Mahnmal wird

von Daniel Killy  23.05.2023 22:12 Uhr

Normalerweise schreibt und spricht Arye Sharuz Shalicar Tacheles. Seine prägnanten und präzisen Aussagen über Deutschland, Israel, jüdisches Leben und Antisemitismus sind immer mit einer gehörigen Portion Sarkasmus gewürzt, die seinen Texten die nötige Schärfe verleiht.

Sein jüngstes Buch verzichtet gänzlich auf stilistisches Zubehör. Es ist eine als Tagebuch angelegte Chronologie des Grauens, das sich nur rund 2000 Kilometer von uns entfernt in der Ukraine abspielt. Shalicar wählt zum Schutz der realen Personen – seines Schwiegervaters, seiner Frau, die mit dem Autor und Politikberater in Israel lebt, und weiterer Teile der Familie seiner Ehefrau andere Namen.

Realität Doch auf diesen hochverdichteten 160 Seiten zu lesen ist die ungeschminkte Realität eines amoralischen Angriffskrieges – aus der Perspektive eines der zahllosen Opfer der russischen Invasion, eines Bürgers der Stadt Cherson – Shalicars Schwiegervater.

Der Autor nennt es ein von wahren Begebenheiten inspiriertes Tagebuch, das Pseudonym des Schwiegervaters ist als Co-Autor genannt. Der Mann, den Arye Sharuz Shalicar Juri nennt, wurde 1949 als Kind von Schoa-Überlebenden in Cherson geboren. Die Stadt wollte er noch nicht einmal verlassen, als seine Frau mit der gemeinsamen Tochter nach Deutschland zog. Und auch während der russischen Attacken, des Besatzungsalltags und der Kämpfe um die Rückeroberung der Stadt will Juri der Heimat nicht den Rücken kehren. Er tut es schließlich doch, in einer absurden Situation, um sich im November 2022 nach Israel zu retten. Mit 73 Jahren zu Tochter und Schwiegersohn.

Doch der Schmerz, die Heimat verloren zu haben, scheint stärker als die Erleichterung, in Sicherheit zu sein. »Ich fühle mich verloren. Bin nicht wirklich hier in Israel angekommen und habe gleichzeitig nie wirklich Cherson verlassen. Mein Körper ist in Israel. Meinen Kopf und meine Seele habe ich in Cherson zurückgelassen.«

Alltag Die lakonisch-protokollarische Art, mit der Juri das Alltagsgrauen von Krieg und Besatzung schildert, das infernalische Hunger-Heulen der Hunde, deren Besitzer tot oder vertrieben sind, die völkerrechtswidrigen Attacken auf ein Krankenhaus, das Gemetzel von Kadyrows Schergen, die zwischendurch Polizeigewalt hatten – all das ist schwer erträglich und soll es auch sein. Arye Sharuz Shalicar ist ein literarisches Mahnmal gegen den Krieg geglückt.

Arye Sharuz Shalicar und Juri Vinograd: »Tagebuch aus Cherson – Vom Leben und Überleben im Krieg in der Ukraine«, FinanzBuch Verlag, München 2023, 160 S., 15 Euro

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