Eve Harris

Chani Kaufman ist zurück!

Wurde mit ihrem ersten Chani-Kaufman-Roman berühmt: die Britin Eve Harris Foto: © Karolina Urbaniak

Eine jüdische Frau, die kein Kind bekommen kann, ist nichts wert – zumindest in den Augen von Mrs. Levy, der Schwiegermutter von Chani Kaufman. Der Ruf der jungen Frau wäre ruiniert, wenn sie nicht bald Mutter wird, und Chanis Ehemann Baruch dürfte sich im Falle einer kinderlosen Ehe sogar scheiden lassen, um erneut zu heiraten. Und das wäre ganz im Sinne seiner Mutter, die nichts mit »diesem dürren, kleinen Kaufman-Mädchen anfangen kann, weil sie nichts für uns ist«.

Doch dieses »gute jiddische Mädchen«, das im ersten Buch von Eve Harris (Die Hochzeit der Chani Kaufman von 2015) auf den Mann und im jetzt erschienenen Roman Die Hoffnung der Chani Kaufman auf das Baby wartet, ist keine von der Religion Getriebene. Chani ist genauso selbstbestimmt wie ihr Mann, hatten sich die beiden doch gegen den Willen von Baruchs Mutter füreinander entschieden, ehe sie heirateten. Als sich nach mehreren Monaten der erhoffte – und von Eltern und Schwiegereltern erwartete – Kindersegen nicht einstellt, fliegt das junge Paar nach London, um sich medizinische Unterstützung zu holen.

Fast zehn Jahre dauerte es bis zur Fortsetzung des Romans über Chanis Hochzeit.

Spätestens als Chani mit ihrem Mann eine Kinderwunschklinik aufsucht, um die Mizwa »Seid fruchtbar und mehret euch« zu erfüllen, wird der aufmerksamen Leserin oder dem Leser klar, dass dieser gleichermaßen unterhaltsame wie tiefgehende Roman weder mit der Religion abrechnet noch ein voyeuristisch-exotisches Bild von ihr zeichnet.

Eine Gemeinschaft am Rande der Mehrheitsgesellschaft

Vielmehr skizziert er eine Gemeinschaft am Rande der Mehrheitsgesellschaft, die nach starren Regeln funktioniert. Diese drohen aber immer wieder aufzubrechen – nicht nur durch das Internet oder wenn man am »gojischen Café« vorbeigeht. Denn keine Gesellschaft ist abgeschirmt gegen die Abgründe der Menschheit, auch nicht das vermeintliche Schtetl von Golders Green. Dort spielt sich nämlich größtenteils die Handlung des Romans ab.

Während Chani und Baruch ihrem Kinderwunsch nachgehen, entwickelt sich mit Rivka ein weiterer Handlungsstrang, der vielleicht sogar noch eine tiefere seelische Verletzlichkeit herausarbeitet, ohne in Kitsch zu enden. Rivka überzeugte bereits im Erstlingswerk von Harris in ihrer Rolle als religiöse Frau, die den einst liberalen Juden Chaim geheiratet hatte, der sich danach zum konservativen Rabbiner Chaim Zilbermann entwickelte.

Nun begibt sie sich in ihre eigene Metamorphose, bricht aus Religion und Ehe aus und ringt mit der wohl schwersten Entscheidung ihres Lebens. Dabei geht es ihr nicht besonders gut, und trotzdem schlägt sich die zukünftige Ex-Rebbetzin in Jeans und mit offenem Haar durchs Leben, vorwärts gewandt und nichts bereuend. So gibt es »über ihr keinen Himmel und unter ihr keine Hölle«, denn »alles war möglich«. Rivkas Sohn weigert sich, zur Schule zu gehen, etwas später wird sie selbst Opfer eines Gewaltangriffs. Trotzdem wirkt ihr Ausbrechen aus dem Gerüst der Orthodoxie unprätentiös, ehrlich und nie nach Aufmerksamkeit schielend.

Aussteigern wird es schwer gemacht

Einmal mehr schockiert die Tatsache, wie schwer es jenen, die aus der orthodoxen Gemeinde aussteigen, und ihren Familien mitunter gemacht wird. In ihrem feinmaschigen Gewebe von Alltag, Familie, Kinderwunsch und Religion wird durch Eve Harris’ Feder immer wieder eine patriarchale Gesellschaftsstruktur sichtbar, innerhalb derer Frauen versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen, und dabei immer wieder auf scheinbar unüberwindbare Mauern stoßen.

Fast zehn Jahre musste das Publikum von Eve Harris auf eine Fortsetzung der Irrungen und Wirrungen um Chani Kaufman und das dazugehörige Familienpersonal warten. Intrigen haben darin ebenso Platz wie »HaShem«. Jiddischer Humor ist gepaart mit britischem, was das Lesen zu einem echten Vergnügen macht.

Die vielen Schauplätze und Perspektivwechsel sorgen für rasches Tempo, wirken aber nie zu schnell. Damit gelingt es der Autorin in ihrer facettenreichen Beschreibung von Charakteren und Situationen, Spannung aufzubauen, ohne die elementaren Probleme des menschlichen Daseins aus den Augen zu verlieren.

Zwangsläufig stellt sich beim Lesen die Frage, wie es sich anfühlen muss, wenn Liebe und Glaube nicht mehr miteinander vereinbar sind, wenn die Risse quer durch die eigene Familie laufen, wenn nicht von vorneherein klar ist, welcher Weg der richtige ist. Die verschiedenen Erzählstränge gehen teilweise ineinander über und zeigen eindrücklich die Zerrissenheit und Unterschiede zwischen der religiösen und der säkularen Welt.

Das Buch zeichnet kein voyeuristisch-exotisches Bild der »Frommen« in Golders Green.

Es geht nicht nur darum, wie »frumm« jemand ist, sondern um die Frage, ob Gott tatsächlich existiert – und was passiert, wenn man nicht mehr an ihn glaubt. Harris lässt ihre Figuren unterschiedlich darauf antworten und staffiert ihr literarisches Personal klug und voller Empathie aus, die sympathischen ebenso wie die unsympathischen Figuren. Wie sie deren Eigenheiten und Schwächen auf liebenswürdige Art schildert, ohne sie zu verdammen oder zu beschönigen, ist ihr hoch anzurechnen.

Eve Harris: »Die Hoffnung der Chani Kaufman«. Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt. Diogenes, Zürich 2024, 512 S., 25 €

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