Oft fallen sie schon im Kindergarten oder in der Schule auf und gelten als Egozentriker mit einem gehörigen Spleen. Gemeint sind autistische Kinder und Jugendliche. Scheinbar völlig in sich zurückgezogen, leben sie in ihrem ganz eigenen Universum und können nur schwer mit der Außenwelt kommunizieren.
So wie der elfjährige Eytan, der eigens mit seinen Eltern aus Azur nahe Holon nach Jerusalem in das Shaare Zedek Medical Center angereist ist. Sein Blick ist fixiert auf die Tür, die den Warteraum mit einem der Flure verbindet. Sobald jemand hinein- oder herausgeht, springt der Junge auf und checkt, ob sie auch wieder richtig ins Schloss gefallen ist. Alle paar Minuten wiederholt sich dieses Ritual.
»Wir sind hier, weil wir dringend Hilfe brauchen«, erklärt seine Mutter Varda. »In seiner Klasse verzweifelten bereits die Lehrer. Sie wissen einfach nicht, wie sie mit ihm umgehen sollen. Zudem kann er immer noch nicht richtig sprechen.« Darum setzen sie alle ihre Hoffnungen auf Adi Eran, den Direktor der neuropädiatrischen Abteilung des Krankenhauses. Wenn möglich, soll Eitan an einer neuen Versuchsreihe teilnehmen, über die gerade viel in den israelischen Medien berichtet wird. Dabei geht es um den Einsatz von Cannabis. Denn die Wirkstoffe der Hanfpflanze, so hat Adi Eran herausgefunden, können sich positiv auf das Verhalten von Autisten auswirken und neurologische Störungen abfedern. All das will man jetzt genauer unter die Lupe nehmen.
Versuchsreihe Eine Gruppe von 120 Versuchspersonen im Alter von fünf bis 29 Jahren soll deshalb über einen längeren Zeitraum hinweg täglich Cannabis zu sich nehmen. »Geplant sind zweimal zwölf Wochen, unterbrochen von einer einmonatigen Pause«, skizziert Adi Eran das Projekt. »Natürlich soll niemand dabei einen Joint rauchen.«
Schließlich basiert das verabreichte Medikament auf einem Extrakt aus dem Cannabidiol, einem der rund 100 Cannabinoiden-Typen der Hanfpflanze, das als Antagonist zum psychoaktiven Wirkstoff THC gilt. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Regulation der synaptischen Übertragung im Gehirn. Verabreicht werden beide in einem Verhältnis von 20 zu eins zusammen mit Olivenöl.
Die Resonanz auf die Ankündigung, eine derartige Studie durchzuführen, war jedenfalls gewaltig. »Unsere Warteliste ist riesig geworden«, weiß Dr. Eran zu berichten. »Viele Familien aus ganz Israel wenden sich an uns und suchen Rat.«
epilepsie Die Idee dazu lieferte eine vorangegangene Versuchsreihe, in der Adi Eran und sein Team etwa 70 Personen, die unter Epilepsie leiden, ebenfalls diese Substanz verabreicht hatten. Und zwar mit Erfolg. Ihre Anfallfrequenz fiel anschließend deutlich niedriger aus, die Attacken selbst wurden schwächer. Und weil rund 20 Prozent all derer, die unter Autismus leiden, auch epileptische Anfälle haben, lag der Gedanke nahe, das Cannabis-Extrakt nun ausschließlich an autistischen Kindern und Jugendlichen zu testen.
Der »Stoff« selbst wird von »Breath of Life« geliefert, dem Betreiber einiger der größten Gewächshäuser zum Anbau von Marihuana für medizinische Zwecke in Israel. »Unser Gesundheitsministerium steht diesem Ansatz sehr aufgeschlossen gegenüber«, berichtet Tamir Gedo, der Vorstandsvorsitzende von Breath of Life. »In anderen Ländern scheint man noch nicht so weit zu sein. Die Genehmigung für den Einsatz unseres Medikaments in dieser Versuchsreihe kam schneller als erwartet.«
Ausgewählt wurden bis dato Heranwachsende, die eine besonders auffällige Symptomatik entwickelt haben und sich beispielsweise selbst verletzen, indem sie mit dem Kopf gegen die Wand schlagen oder sich beißen. Oder solche, die auf konventionelle Medikamente nicht gut reagieren. Der Vorteil der Cannabis-Extrakte: Die einzigen beobachteten Nebenwirkungen waren ein erhöhtes Schlafbedürfnis und gelegentlich Durchfall.
Placebos Um zu überprüfen, ob sich durch das Extrakt aus dem Cannabidiol positive Veränderungen bei den Patienten einstellen oder nicht, wird ein Teil von ihnen mit Placebos behandelt. Familien, Lehrer und Pflegekräfte werden gleichfalls in die Studie mit eingebunden.
In Deutschland wird die Zahl von Menschen mit Autismus auf rund 35.000 geschätzt – interessanterweise werden Jungen drei- bis viermal so oft mit dieser Störung geboren wie Mädchen. Im jüdischen Staat sind es nach Angaben von »ALUT – The Israeli Society for Autistic Children« über 8000. Und einige von ihnen dienen sogar in den israelischen Streitkräften. Im Rahmen des Projekts »Ro’im Rachok« (zu Deutsch: in die Ferne sehen) will man sich ihre ganz speziellen Fähigkeiten, die diese Menschen parallel zu der angeborenen Entwicklungsstörung mitbringen, zunutze machen.
Denn oftmals verfügen sie über eine außergewöhnlich präzise Wahrnehmungskraft, ein phänomenales Gedächtnis und andere Sonderbegabungen. Deshalb eignen sie sich hervorragend für die Aufklärung. Beispielsweise in der Einheit 9900. Dort werten Autisten Luft- und Satellitenaufnahmen aus. Sie registrieren jede noch so kleine Veränderung – das geht einher mit ihrem obsessiven Verhalten. So wie bei dem kleinen Eytan im Shaare Zedek Medical Center, der stundenlang die Tür zum Warteraum kontrolliert.