Nichts beschäftigte den Schriftsteller und Sozialpsychologen Elias Canetti (1905-1994) zeitlebens mehr als die Entstehung und das Innenleben von Menschenmassen. Für den Literaturnobelpreisträger von 1981 waren »Masse und Macht«, so der Titel seines 1960 erschienenen Hauptwerks, das Faszinosum der Weltgeschichte überhaupt.
Könnte er heute auf den Dächern um den Tahrir-Platz stehen und auf Kairos Massenproteste herunterschauen, würde Canetti zunächst die offenkundige Führungslosigkeit der dort angesammelten Menge bemerken und über den Mangel an Symbolen und Führungsfiguren staunen. Die zehntausende Menschen auf dem Platz versammeln sich nicht, um einem bestimmten Redner zuzuhören. Die Revolutionäre tragen keine Symbole anderer Mächte durch die Straßen, noch greifen sie Symbole vermeintlicher Imperialisten an. Manche beten in geordneten Reihen wie ein Heer von Gläubigen. Andere beten nicht, zumindestens nicht zur gleichen Zeit. Vielleicht beten sie überhaupt nicht, denn sie sind lässig gekleidet wie junge Menschen aus dem säkularen Westen.
organik Canetti starb 1994, vor dem Siegeszug des Internets. So kannte er unsere modernen Massen nicht, die sich aus sozialen Netzwerken kollektiv und spontan herausbilden werden. Doch schon als junger Mann hatte er erkannt, dass die politischen Führer letztendlich uninteressant sind, sogar austauschbar. Deshalb erwähnte er in seinem Magnum Opus so gut wie kaum Adolf Hitler, den Urdemagogen der Moderne, dessen schwarzer Oberlippenbart auf Plakaten von Mubarak-Gegnern das Gesicht des Noch-Herrschers »schmückt«.
Dem studierten Chemiker Canetti ging es nicht um Anführer, sondern um die Analyse des organischen Lebens der Massen, der Augenblicke ihrer Entstehung sowie ihrer unvermeidlichen Zerfallsprozesse. Canetti war ein geistiges Kind des 19. Jahrhunderts, eines Zeitalters der Revolutionen in den rasch wachsenden urbanen Zentren Europas – und auch einer Zeit der Pogrome. Als Jude interessierte er sich für die Gesetzmäßigkeiten von Massenbewegungen, betrachtete halb optimistisch, halb pessimistisch all das, was in den Straßen vor sich ging. Diese Überlebenswissenschaft, man könnte sie so nennen, würde Canetti auch heute am Tahrir-Platz treiben.
initialzündung Die ägyptische Revolution ist auch eine Reaktion auf ähnliche, wenngleich schneller ablaufende Entwick-lungen in Tunesien. Dort entfachte in der Provinzstadt Sidi Bouzid die Selbstverbrennung des Obstverkäufers Bou’azizi einen sozialen Flächenbrand, der das Regime bezwang. »Der erste Tote ist es, der alle mit dem Gefühl der Bedrohtheit ansteckt ...«, heißt es in Masse und Macht. »Es geht nicht so sehr um sein Gewicht innerhalb seiner Gruppe. Es kann sich um jemanden handeln, der von keinem besonderen Einfluss ist, manchmal ist es sogar ein Unbekannter.
Es kommt auf seinen Tod an und auf sonst gar nichts; man muss glauben, dass der Feind die Verantwortung trägt ... Er ist als Angehöriger der Gruppe, der man sich selber zurechnet, umgekommen ... Die rasch entstandene Klagemeute wirkt als Massenkristall, sie öffnet sich sozusagen: alles hängt sich an, das sich aus demselben Grunde bedroht fühlt.« Es bildet sich dann das, was Canetti eine »offene Masse« nennt, die wächst und wächst und eine Faszination entwickelt auf all diejenigen, die zuschauen. Besonders auf die Bürger Ägyptens, die zwar eine vielfältigere Oppositionsbewegung kennen, die aber längst noch nicht so viel erreicht haben wie die klagenden Menschenmengen Tunesiens.
euphorie Auch die Euphorie am Tahrir-Platz hätte Canetti gut verstanden: die Entstehung einer profunden Gleichheit unter den Teilnehmenden, die verlorene Angst vor Fremden, all das, was die Ägypter am Tahrir-Platz als Geburt einer neuen, nicht hierarchischen Zivilgesellschaft empfinden. Alles, was eine Diktatur am Leben hält, Angst und Ungleichheit, löst sich für die Masse auf. Nicht nur durch Zerstörung oder Feuer, sondern seltsamerweise wie in der Luft, als ob es Angst und Tod nie gegeben hätte. »Je heftiger die Menschen sich aneinanderpressen, umso sicherer fühlen sie, dass sie keine Angst voreinander haben. Dieses Umschlagen der Berührungsfurcht gehört zur Masse. Die Erleichterung, die sich in ihr verbreitet ... erreicht ein auffallend hohes Maß in ihrer größten Dichte«, beschreibt Canetti diese Euphorie.
Doch auch von der hohen Instabilität dieses Massenkristalls weiß er. So schnell, wie die Menge sich formiert, kann sie auch auseinandergehen. Am wichtigsten für jede Massenbewegung sei es deshalb, ein Ziel zu haben, schreibt Canetti, und sei es noch so fern, noch so schwer zu erreichen. Denn ohne Ziel zerfällt jede Gruppe. In welche Richtung werden die Menschen vom Tahrir-Platz sich eher wenden? Nach Mekka, nach Washington, nach Istanbul? Kann der Westen ein Ziel, und sei es noch so fern, für die ägyptischen Massen überzeugend formulieren? Oder werden andere das Ziel anbieten – vielleicht die Türkei? Das hätte Canetti auch interessiert, denn er erblickte das Licht der Welt in Bulgarien, nur wenige Jahrzehnte nach der Befreiung des Landes von der osmanischen Herrschaft.
prophetisch Oder geht die Mehrheit vom Tahrir-Platz den Weg des politischen Islam? Elias Canetti hätte es nicht verwundert. Obwohl Zeitzeuge der großen säkularen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, von der Oktoberrevolution über die Macht-ergreifungen Mussolinis und Hitlers bis zu den Befreiungsbewegungen in den ehemaligen Kolonien in Afrika und Asien, glaubte er nicht, dass politische Parteien die großen Führer der Menschenmassen waren.
Es waren nach Canettis Meinung vielmehr die großen Weltreligionen, die die Lenkung der Massen eigentlich verstanden und perfektioniert hatten – ob bei den Pilgerfahrten nach Mekka, dem gediegenen, langsamen Ritus der katholischen Kirche, oder in der ewigen Hoffnung der Juden auf Jerusalem. Auch diese Einsicht zeugt von der Langzeitwirkung des canettischen Werkes in unsere Zeiten hinein, jetzt, da die Parteien eher zerfallen und die Religionen sich so lebendig zeigen.
Elias Canetti: »Masse und Macht«.
S. Fischer, Frankfurt/M. 1980, 592. S., 14,95 €