Vor Kurzem unternahm ich eine Pilgerreise – eine vierstündige Busfahrt – von Tel Aviv nach Tel Chai, um an der jährlichen Gedenkstunde dort teilzunehmen. Das hebräische Wort »Tel« bedeutet »Hügel«, »Chai« heißt »Leben«. Aber ich nenne seit meiner Kindheit diesen Ort, einen wieder- aufgebauten Hof, den Hof des Blutes.
Tel Chai ist ein galiläischer Mythos und eine Kultstätte für diejenigen, die keine Alternative dazu sehen, das Schwert zu ergreifen. Acht Männer und eine Frau starben hier in einer Schlacht am ersten Märztag 1920. Die anderen Verteidiger zogen sich zurück. Der Hof wurde von den arabischen Angreifern angezündet und niedergebrannt.
niederlage Wie bei der Erinnerung an Simon Bar Kochbas vernichtende Niederlage fasziniert uns auch hier der Charakter des unsterblichen jüdischen Helden – Josef Trumpeldor, der Kommandant dieses einsamen, belagerten, von Feinden umgebenen Punkts auf der Anhöhe. Als Kind waren meine Gutenachtgeschichten diese tatsächlichen Ereignisse, wie sie mir mein verstorbener Großvater Hilel Landesman erzählte. Er gehörte zu den wenigen, die sich an diesem schicksalhaften Tag hatten retten können.
Großvater starb 1973. Nie versäumte er eine der Gedenkstunden auf dem alten Friedhof, ein paar Kilometer von dem berühmten Hof entfernt, wo ein Löwe aus Kalkstein über dem Grab der Toten brüllt. Großvater war mit Trumpeldor in einem Raum, als der Kommandeur seine Seele aushauchte. 35 Jahre später sagte er in einer Rede in Tel Chai als Vorsitzender des Regionalrats von Galiläa: »Uns widerfuhr kein Wunder, obwohl Purim war.«
Er erinnerte die Zuhörer auch daran, was der große Führer der Arbeiterbewegung, Berl Katznelson, in einer Antwort auf einen Artikel seines politischen Gegners Zeev Jabotinsky geschrieben hatte. »Der einzige Beweis für unser Recht auf das Land«, ließ Katznelson Jabotinsky wissen, der seine Zweifel an diesem beinahe selbstmörderischen Akt hatte, »ist dieses hartnäckige und verzweifelte Standhalten, ohne zurückzuschauen.«
fensterrede Das Wetter an diesem 11. Tag des zweiten Adar, dem hebräischen Datum von Trumpeldors Todestag, wechselte ständig zwischen strahlender Sonne und Regenschauern. Im Bus auf dem Weg zur Gedenkstunde las ich noch einmal das Protokoll einer Konferenz eine Woche vor dem Fall von Tel Chai.
In einem Raum voller großer zionistischer Größen wie Ben Gurion und Tabenkin war Jabotinsky der Einzige, der mutig genug war, vorzuschlagen, dass es vielleicht verantwortungsvoller wäre, die Kämpfer aus dem belagerten Hof zu evakuieren. Während die Politiker stritten, fühlten sich die Verteidiger, wie man sie damals nannte, im Stich gelassen. Gegen zionistisches Karma kommt man wohl nicht an.
Ehrengast bei der diesjährigen staatlichen Zeremonie in Tel Chai ist der stellvertretende Verteidigungsminister Danny Danon, früher Chef der Jugendorganisation Betar – Brit Trumpeldor. Jabotinsky, der Gründer des Betar, hatte Trumpeldor zur Ikone der Bewegung erwählt. Danon hält die Hauptrede auf dem Friedhof vor Hunderten von Betar-Kids in Purimkostümen und mit Trillerpfeifen bewaffnet. Jabos (wie ihn seine Anhänger nennen) Name fällt häufig in der Ansprache. Ob der Redner sich überhaupt erinnert, dass sein großes Vorbild ein Kritiker des ganzen Debakels gewesen war? »Wir haben noch viele Trumpeldors«, verkündet Danon mit lauter Stimme: »Und das sind die Siedler in Judäa und Samaria.«
prügel Vom Hügel aus hat man einen Blick über das ganze Tal. Ich versuche, es mir dicht mit Schnee bedeckt vorzustellen, so wie es 1920 war. So still und legendär und furchterregend. Ein kleines Mädchen nähert sich der Bank, auf der mein 19-jähriger Sohn Emanuel und ich uns ausruhen. »Ist das hier ein Friedhof?«, fragt sie. »Ist das ein Grab?« Als ich so alt war wie sie und in dem Kibbuz lebte, in dem die aus Tel Chai Vertriebenen Zuflucht gefunden hatten, verbrachte ich glückliche Stunden auf dem Friedhof. All die geheimnisvollen Familienangehörigen dort machten mich stolz, eine Tochter unseres Stammes zu sein.
Mein 84-jähriger Vater Jitzhak holt uns ab. Der Parkplatz ist voll mit Bussen. Papa erzählt, dass Anfang der 50er-Jahre, als wir, die Linke, noch am Ruder waren, Ben Gurion den Widerstand gegen das Wiedergutmachungsabkommen zwischen Israel und Deutschland brechen musste. Also packte er 26 Busse mit jungen, knüppelbewehrten Kibbuzniks aus dem ganzen Land voll. Vater war dabei. Sie hatten viel Spaß auf der Fahrt in die große Stad, Tel Aviv, wo sie die anderen windelweich prügelten. Die anderen, das waren die Betar-Leute, die sich mit einer Protestkundgebung auf dem großen Platz Ärger einhandelten. Später, als Teenager, fuhr auch ich in solchen Bussen mit, wenn die Friedensbewegung Massen brauchte.
Es ist hart und traurig, dass man sich für eine Seite entscheiden muss. Vor allem, wenn man mit der Tradition groß geworden ist, sich ein X für ein U vorzumachen. Auf dem Weg nach Hause konnte ich nicht anders, als mich zu fragen: Hat man uns, als wir als Kinder auf dem Friedhof unseren Spaß hatten, auch so viel Mist erzählt?
Nili Landesman wurde 1966 im Kibbuz Ayelet Hashachar im Norden Israels geboren. Nach ihrem Armeedienst, den sie als Journalistin bei der Armeezeitung Bamachane absolvierte, zog sie nach Tel Aviv. Dort war sie als Musikjournalistin für die populäre Zeitschrift Ha’ir tätig. Später war sie jahrelang eine der trendangebenden Modejournalistinnen Israels. In dieser Zeit schrieb sie zwei sehr erfolgreiche Romane und zahlreiche TV-Drehbücher. Landesmans dritter Roman »Im Guten wie im Schlechten«, ihr erstes Buch, das auf Deutsch erschien (Eichborn 2012), stand monatelang auf den israelischen Bestsellerlisten.
Die Autorin liest bei den Deutsch-Israelischen Literaturtagen, die vom 5. bis 13. April in Berlin stattfinden.
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