Mit diesem Comeback hat wohl kaum jemand gerechnet. Im Januar meldete das »Wall Street Journal«, dass sich die Zahl der Downloads von ICQ in Hongkong um den Faktor 35 erhöht habe. Auch anderswo registrierte man auf einmal regen Zulauf. Die Mutter aller Messenger-Dienste, deren Name für »I seek you« steht, was so viel wie »Ich suche dich« heißt, wurde vor Kurzem 25 Jahre alt. Eigentlich hatte niemand mehr ICQ auf dem Radar.
Dass der Dienst derzeit eine kleine Renaissance erlebt, habe zwei Gründe, so das Wirtschaftsblatt. Zum einen ließen die neuen Nutzungsbedingungen des Marktführers WhatsApp viele Nutzer nach Alternativen suchen. Zum anderen wecke das alte ICQ-Logo mit der bunten Blume bei Älteren vielleicht nostalgische Gefühle.
REVOLUTION Mit mehreren Freunden gleichzeitig Nachrichten in Echtzeit austauschen zu können – all das war in den Kindertagen des Internets geradezu revolutionär. Zur Jahrtausendwende zählte ICQ deshalb weit mehr als 100 Millionen User. Dann ging es allmählich bergab. Seit Jahren dümpelt die Zahl der Nutzer bei rund elf Millionen. Konkurrenz kam vor allem von WhatsApp oder den sozialen Netzwerken wie Facebook mit ihren Chat-Funktionen, zudem verschlief man überzeugende Weiterentwicklungen für das Smartphone.
Die Geschichte von ICQ steht symbolisch für die Diskussion um die Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells der Start-up-Nation Israel.
Mirabilis, das Unternehmen, das hinter ICQ stand, war zugleich auch die erste große Erfolgsgeschichte der »Start-up-Nation« Israel. Als Yair Goldfinger, Arik Vardi sowie Sefi Vigiser und Amnon Amir, vier Studenten aus Tel Aviv, im November 1996 nach rund drei Jahren Entwicklungsarbeit mit ICQ an den Start gingen, konnten sie noch nicht ahnen, dass ihr simples Internetchat-Programm ein Riesenhit werden sollte. »ICQ-User sind sehr loyal, fast wie Anhänger einer Popband oder eines Fußballklubs«, so Yossi Vardi, Vater eines der jungen Tüftler, damals voller Verwunderung.
INVESTITION Yossi Vardi war auch erster Geschäftsführer von Mirabilis, weil er über reichlich Erfahrungen als Manager aus seiner Zeit bei den Unternehmen Israel Chemicals und Israel Electric Corporation verfügte. Und ganz nebenbei hatte er auch einige Hunderttausend Dollar aus eigener Tasche in die Firma gesteckt – eine Investition, die sich rasch auszahlen sollte. Denn schon 1998 legte der damalige Internetgigant AOL 287 Millionen Dollar auf den Tisch und übernahm die kleine Firma aus Israel mitsamt ihrer wertvollen Kundenliste.
2010 kam erneut ein Besitzerwechsel, diesmal für nur noch 188 Millionen Dollar. Seither gehört ICQ zum Reich der russischen Mail.Ru Group, wo man 2020 unter dem Namen »ICQ New« eine runderneuerte Version des Messenger-Dienstes vorstellte, die unter anderem Sprachnachrichten in Text umwandeln kann. Doch um die Sicherheit der Nutzerdaten sei es finster bestellt, warnen Experten.
START-UP-NATION Die Geschichte von ICQ steht ebenfalls symbolisch für die Diskussion um die Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells der Start-up-Nation Israel. Natürlich sei es beeindruckend, wenn Hightech-Firmen für viele Milliarden Dollar in der ganzen Welt Käufer finden. Nur würde so die Entwicklung von großen Unternehmen im eigenen Land abgewürgt, heißt es oft. Das sei falsch, sagte Yossi Vardi im Wirtschaftsblatt »Globes« und präzisierte: »Die gibt es doch längst. Nur heißen sie Intel Israel, Microsoft Israel und Cisco Israel.«
Aber auch andere Zahlen relativieren die Kritik. So sind von Januar bis Mitte Oktober 2021 rund 19 Milliarden Dollar Investitionen in junge israelische Unternehmen geflossen – ein neuer Rekord. Das meiste Geld stamme aber mittlerweile von sogenannten Einhörnern, also Technologieunternehmen, die absurderweise immer noch Start-ups heißen, jedoch mehr als eine Milliarde Dollar wert sind und viele Hundert Mitarbeiter zählen. 50 davon gebe es dem Wirtschaftsinformationsdienst »CB Insight« zufolge bereits in Israel, weltweit seien es 863. Deshalb sei es an der Zeit, so schreibt Globes, das Label »Start-up-Nation« abzulegen und von einer »Einhorn-Nation« zu sprechen.