Digitalwirtschaft

Bunte Blumen und Einhörner

Vor 25 Jahren brachten vier junge Israelis den Chatdienst ICQ an den Start. Wie steht es heute um die Start-ups?

von Ralf Balke  30.11.2021 10:49 Uhr

Erster Geschäftsführer von Mirabilis: Yossi Vardi Foto: Flash90

Vor 25 Jahren brachten vier junge Israelis den Chatdienst ICQ an den Start. Wie steht es heute um die Start-ups?

von Ralf Balke  30.11.2021 10:49 Uhr

Mit diesem Comeback hat wohl kaum jemand gerechnet. Im Januar meldete das »Wall Street Journal«, dass sich die Zahl der Downloads von ICQ in Hongkong um den Faktor 35 erhöht habe. Auch anderswo registrierte man auf einmal regen Zulauf. Die Mutter aller Messenger-Dienste, deren Name für »I seek you« steht, was so viel wie »Ich suche dich« heißt, wurde vor Kurzem 25 Jahre alt. Eigentlich hatte niemand mehr ICQ auf dem Radar.

Dass der Dienst derzeit eine kleine Renaissance erlebt, habe zwei Gründe, so das Wirtschaftsblatt. Zum einen ließen die neuen Nutzungsbedingungen des Marktführers WhatsApp viele Nutzer nach Alternativen suchen. Zum anderen wecke das alte ICQ-Logo mit der bunten Blume bei Älteren vielleicht nostalgische Gefühle.

REVOLUTION Mit mehreren Freunden gleichzeitig Nachrichten in Echtzeit austauschen zu können – all das war in den Kindertagen des Internets geradezu revolutionär. Zur Jahrtausendwende zählte ICQ deshalb weit mehr als 100 Millionen User. Dann ging es allmählich bergab. Seit Jahren dümpelt die Zahl der Nutzer bei rund elf Millionen. Konkurrenz kam vor allem von WhatsApp oder den sozialen Netzwerken wie Facebook mit ihren Chat-Funktionen, zudem verschlief man überzeugende Weiterentwicklungen für das Smartphone.

Die Geschichte von ICQ steht symbolisch für die Diskussion um die Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells der Start-up-Nation Israel.

Mirabilis, das Unternehmen, das hinter ICQ stand, war zugleich auch die erste große Erfolgsgeschichte der »Start-up-Nation« Israel. Als Yair Goldfinger, Arik Vardi sowie Sefi Vigiser und Amnon Amir, vier Studenten aus Tel Aviv, im November 1996 nach rund drei Jahren Entwicklungsarbeit mit ICQ an den Start gingen, konnten sie noch nicht ahnen, dass ihr simples Internetchat-Programm ein Riesenhit werden sollte. »ICQ-User sind sehr loyal, fast wie Anhänger einer Popband oder eines Fußballklubs«, so Yossi Vardi, Vater eines der jungen Tüftler, damals voller Verwunderung.

INVESTITION Yossi Vardi war auch erster Geschäftsführer von Mirabilis, weil er über reichlich Erfahrungen als Manager aus seiner Zeit bei den Unternehmen Israel Chemicals und Israel Electric Corporation verfügte. Und ganz nebenbei hatte er auch einige Hunderttausend Dollar aus eigener Tasche in die Firma gesteckt – eine Investition, die sich rasch auszahlen sollte. Denn schon 1998 legte der damalige Internetgigant AOL 287 Millionen Dollar auf den Tisch und übernahm die kleine Firma aus Israel mitsamt ihrer wertvollen Kundenliste.

2010 kam erneut ein Besitzerwechsel, diesmal für nur noch 188 Millionen Dollar. Seither gehört ICQ zum Reich der russischen Mail.Ru Group, wo man 2020 unter dem Namen »ICQ New« eine runderneuerte Version des Messenger-Dienstes vorstellte, die unter anderem Sprachnachrichten in Text umwandeln kann. Doch um die Sicherheit der Nutzerdaten sei es finster bestellt, warnen Experten.

START-UP-NATION Die Geschichte von ICQ steht ebenfalls symbolisch für die Diskussion um die Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells der Start-up-Nation Israel. Natürlich sei es beeindruckend, wenn Hightech-Firmen für viele Milliarden Dollar in der ganzen Welt Käufer finden. Nur würde so die Entwicklung von großen Unternehmen im eigenen Land abgewürgt, heißt es oft. Das sei falsch, sagte Yossi Vardi im Wirtschaftsblatt »Globes« und präzisierte: »Die gibt es doch längst. Nur heißen sie Intel Israel, Microsoft Israel und Cisco Israel.«

Aber auch andere Zahlen relativieren die Kritik. So sind von Januar bis Mitte Oktober 2021 rund 19 Milliarden Dollar Investitionen in junge israelische Unternehmen geflossen – ein neuer Rekord. Das meiste Geld stamme aber mittlerweile von sogenannten Einhörnern, also Technologieunternehmen, die absurderweise immer noch Start-ups heißen, jedoch mehr als eine Milliarde Dollar wert sind und viele Hundert Mitarbeiter zählen. 50 davon gebe es dem Wirtschaftsinformationsdienst »CB Insight« zufolge bereits in Israel, weltweit seien es 863. Deshalb sei es an der Zeit, so schreibt Globes, das Label »Start-up-Nation« abzulegen und von einer »Einhorn-Nation« zu sprechen.

Glosse

Der Rest der Welt

Über Mansplaining, Mut und Mitgefühl: Es fängt im Kleinen an

von Nicole Dreyfus  19.11.2024

Sachbuch

Auf dem Vulkan

In »Niemals Frieden?« rechnet der Historiker Moshe Zimmermann mit der israelischen Politik ab

von Ralf Balke  18.11.2024

Meinung

Maria und Jesus waren keine Palästinenser. Sie waren Juden

Gegen den Netflix-Spielfilm »Mary« läuft eine neue Boykottkampagne

von Jacques Abramowicz  18.11.2024

Fachtagung

»Kulturelle Intifada«

Seit dem 7. Oktober ist es für jüdische Künstler sehr schwierig geworden. Damit beschäftigte sich jetzt eine Tagung

von Leticia Witte  18.11.2024

Kultur

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. November bis zum 21. November

 18.11.2024

Runder Geburtstag

Superheldin seit Kindesbeinen

Scarlett Johansson wird 40

von Barbara Munker  18.11.2024

Netflix

Zufall trifft Realität

»Diplomatische Beziehungen« geht in die zweite Runde – Regisseurin Debora Cahn ist Spezialistin für mitreißende Serienstoffe

von Patrick Heidmann  17.11.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 17.11.2024

Literatur

Schreiben als Zuflucht

Der israelische Krimi-Bestsellerautor Dror Mishani legt mit »Fenster ohne Aussicht« ein Tagebuch aus dem Krieg vor

von Alexander Kluy  17.11.2024