Am Ende des NS-Terrors blieben Millionen von Dokumenten, die das Grauen belegen. Tausende von Büchern, Erinnerungen und Monografien sind bereits geschrieben worden. Aber der Fall der Mauer und die Öffnung der Archive im ehemaligen Ostblock hat viele weitere, zum Teil noch nicht ausgewertete, Dokumente zugänglich gemacht. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte arbeitet seit Jahren an der Aufbereitung dieser historischen Unterlagen. Die 16 Bände umfassende Dokumentensammlung über Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 wird wohl erst in ein paar Jahren komplett sein.
Der jetzt erschiene vierte Band über Polen enthält Dokumente von September 1939 bis Juli 1941. Hunderte von Seiten in der Sprache der Täter, die bürokratisch kühl über die beginnende Vernichtung der Juden in Polen berichten, statistisch ihre Erfolge bei der Verfolgung, Deportation und Ermordung von Tausenden aufschlüsseln.
Untergrund »Befehle, Verordnungen, Verlautbarungen, Tätigkeitsberichte und Sitzungsprotokolle der beteiligten Behörden verdeutlichen die Dimensionen der Verfolgung«, heißt es im Vorwort des jetzt öffentlich präsentierten Bandes. Aber die Herausgeber belassen es nicht dabei, die Verfolgung anhand der Hinterlassenschaften der Täter zu belegen. Sie zeigen zusätzlich mit bisher nicht veröffentlichten Tagebuchauszügen, Briefen, »offiziellen und geheimen Dossiers«, Flugblättern und anderen Untergrundpublikationen die Sicht der Opfer.
Am 6. Oktober kapitulierte Polen, rund 3,5 Millionen Juden lebten im Land, etwa zehn Prozent der Bevölkerung. »Die hier publizierten Quellen«, schreiben die Herausgeber, »vermitteln einen Eindruck von der Ratlosigkeit, die unter den polnischen Juden herrschte, von ihren Deutungsversuchen und ihrem Umgang mit der Bedrohung« nach dem Überfall der Wehrmacht.
»Das Neue an dem Band besteht vor allem in der Vielfalt der Perspektiven auf die Judenverfolgung in Polen in den ersten Kriegsjahren«, betont Projektleiterin Susanne Heim. Die Dokumente belegten auch, dass die Pläne der deutschen Besatzer anfangs noch nicht sehr ausdifferenziert waren: Es gab Umsiedlungsprojekte, die aber nur zum Teil realisiert wurden. Die Besatzer richteten Gettos ein, riegelten aber nicht alle rigoros ab.
Abweichungen Spannend ist der Bericht vom Februar 1940 von Jan Karski. Darin berichtet der Verbindungsmann zwischen dem polnischen Untergrund und der polnischen Exilregierung ausführlich über die Lage der Juden im deutsch besetzten Polen. Von diesem Bericht gebe es aber zwei verschiedene Fassungen, sagt Heim. Offensichtlich seien Karskis Schilderungen redigiert worden, um das Verhältnis zwischen den polnischen Juden und ihren nichtjüdischen Nachbarn in manchen Punkten zu beschönigen. »Die Abweichungen werden in dem Band gekennzeichnet und beide Fassungen überliefert«, betont Susanne Heim.
In der Reihe werden noch zwei Bände erscheinen, die sich mit Polen befassen: Band 9, der die Judenverfolgung im Generalgouvernement vom Sommer 1941 dokumentiert, soll im kommenden Jahr erscheinen, Band 10 über die Judenverfolgung in den »eingegliederten Ostgebieten« im Jahr 2014.
Susanne Heim, Ulrich Herbert, Hans-Dieter Kreikamp (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Band 4: Polen, September 1939–Juli 1941. Oldenbourg, München 2011, 752 S., 59,80 €