Patricia Schlesinger

»Bürgerin mit jüdischen Wurzeln«

Wir haben Angst! Angst vor einem Atomkrieg. Angst vor der nächsten Corona-Welle. Angst vor Einschränkungen unseres Wohlstands. (…) Aber Angst löst keine Probleme. Tacheles reden ist kein Jammern über Befindlichkeiten. Tacheles reden heißt wie im Journalismus: genau hinschauen. Auch in die dunklen Ecken. Auch dorthin, wo es schmerzt.

Anlässe zum Tacheles reden – Glutnester! – gibt es genügend in unserer Gesellschaft. Der unfassbare Krieg, den Putin gegen die Ukraine führt. Und die Pandemie hat uns die starken Fliehkräfte aufgezeigt, die an den Festen unserer Demokratie zerren. Wie ist es dazu gekommen? (…) 2006 hatten wir mit der ganzen Welt die Fußballweltmeisterschaft, unser »Sommer­märchen«, gefeiert.

deutschlandbild Ein neues weltoffenes, sympathisches Land, tanzende Menschen auf der Straße, eine multikulturelle Fußballmannschaft – »ein positiver Riss im Deutschlandbild weltweit« fasste der Philosoph Wolfram Eilenberger die Stimmung jener Tage zusammen.

Wie konnte es danach zu einem solchen Umschwung kommen? Wie konnten sich Wissenschaftsfeindlichkeit und Medienkritik zu Kräften entwickeln, die unsere Gesellschaft so nachhaltig verunsichern? Der Schock der Pandemie unterstützte sicherlich diese Entwicklung. (…) Aber es ist noch nicht vorbei. Bereits jetzt warnen Medizinerinnen, Wissenschaftler und Politiker vor einer neuen Welle.

Und wir? Wir sind geschwächt, dünnhäutig, sehnsüchtig. Und in all das fiel der 24. Februar. Das Unvorstellbare geschah: Russische Truppen marschierten in die Ukraine ein. Es ist ein Angriff auf Europa. Auf unsere Werte. Auf die Demokratie.

Grete und Artur Schlesinger gaben sich 1932 in Dresden das Jawort.

Und unsere Werte sind machtlos, wenn sie auf Verachtung treffen. Meinungsfreiheit stoppt keinen Panzer, Demokratie wehrt keine Bomben ab. Die Furcht vor einem Dritten Weltkrieg steht im Raum, die Angst vor einem Atomkrieg.

»Wenn man es recht besieht, so ist überall Schiffbruch!« Das schrieb der römische Senator und Dichter Titus Petronius, der in den Jahren 14 bis 66 lebte. Das Gefühl, in besonders schwierigen, gefährlichen und unübersichtlichen Zeiten zu leben, ist also mindestens so alt wie die Geschichtsschreibung.

schiffbruch Wenn jedoch von Schiffbruch die Rede ist – so muss es vorher doch ein Schiff gegeben haben! Im Falle von Titus Petronius war das Schiff die zerstrittene Supermacht des römischen Kaiserreichs, des Imperium Romanum, unter der Führung des gefährlichen Kaisers Nero. In unserem Fall war das Schiff ein weitgehend friedliches Europa, der Glaube an eine tragfähige europäische Sicherheitsarchitektur von Norwegen bis Malta, von Portugal bis Russland. Ist der Traum vom Frieden ausgeträumt? Waren wir zu naiv?

Meine Großeltern Grete und Artur Schlesinger geben sich am 9. November 1932 in Dresden das Jawort. Sie leben hier, hier in Görlitz. Das »Jawort«. Ich wähle bewusst, diesen Ausdruck, weil in diesem Wort bereits der besondere Zauber dieser Verbindung liegt. (…) Grete wächst wohlbehütet in einer gut situierten Görlitzer Fabrikantenfamilie mit Villa in der Rauschwalder Straße auf. Artur ist 16 Jahre älter als Grete, wird ohne Vater groß, macht als Rennfahrer Schlagzeilen, ist ein bisschen Lebemann, ein Technik- und Autoliebhaber. Er betreibt das erste Haus für Mobilität an der Berliner Straße: »Autoschlesinger«.

Sie sagen unumkehrbar und unumstößlich zueinander: ja! Ohne Relativierungen, ohne Netz oder doppelten Boden. Dabei besitzt ihr Bekenntnis zueinander, ob sie wollen oder nicht, eine Bedeutung über das rein Private hinaus. Denn wir schreiben das Jahr 1932, und Artur Schlesinger, mein Großvater, ist Jude.

Als ich Anfang der 70er-Jahre meiner Großmutter Grete erzählte, dass ich nach Israel reisen würde, fragte sie mich: »Du weißt schon, dass wir dort Verwandte haben?« Nein. Das wusste ich nicht. Damals erfuhr ich, dass die Mutter meines Opas Jüdin war und im Konzentrationslager Theresienstadt umkam. Dass eine Großtante, die Schwester meines Großvaters, den Rabbiner Max Rosenau geheiratet hatte. Und dass er mit Frau und Tochter 1938 nach einem Mordanschlag in der Pogromnacht nach Israel geflohen war. Auf einmal war ich nicht mehr nur eine Studentin aus Hamburg, sondern eine deutsche Bürgerin mit jüdischen Wurzeln.

BESTECHUNG Dass mein Großvater Artur den Nazi-Terror überlebt hat, hat er vor allem zwei Frauen zu verdanken. Seiner Ehefrau Grete und seiner Mutter Rieke. Als Artur 1938 von der Gestapo verhaftet worden war, weil in seinem Ausweis der für Juden obligatorische Namenszusatz »Israel« fehlte, da hat Grete, die »Arierin«, nicht nur immer wieder couragiert bei der Behörde nach seinem Verbleib gefragt, sondern im richtigen Moment auch den richtigen Beamten bestochen.

Ich frage mich, wie das vor sich gegangen ist. Und ich kann es mir kaum vorstellen. Wie macht man so etwas? Es kommt mir sehr mutig vor. Schließlich brachte sie sich selbst damit in Gefahr. Was, wenn ihr Bestechungsangebot abgelehnt worden wäre? Was, wenn sie ebenfalls in Gewahrsam – eben wegen Bestechungsversuchs – genommen worden wäre? Sie hatten zu der Zeit schon zwei Kinder. Dass der von ihr Bestochene tatsächlich sein Wort hält und Artur zum zugesagten Termin freikommt, gehört zu den vielen unerklärlichen Glücksmomenten in der Biografie meiner Großeltern.

Die zweite Unterstützung bekam Artur durch seine findige Mutter Rieke, eine fromme Jüdin. Nach einem langen Spaziergang über einen christlichen Friedhof erbittet sie beim »Sippenamt« eine Korrektur: Artur sei nämlich gar nicht, wie in seiner Geburtsurkunde vermerkt, der Sohn ihres verschollenen jüdischen Ehemanns Jacob Schlesinger. Sondern das Ergebnis eines illegitimen und deswegen lange verschwiegenen Verhältnisses mit einem mittlerweile verstorbenen Christen (deswegen der Besuch auf dem Friedhof!) – und somit sei Artur »nur« noch Halbjude.
Ihr Antrag wird tatsächlich bewilligt.

»halbjude« Artur wird auf den deutlich weniger gefährdeten Status des »Halbjuden« zurückgestuft und verschwindet aus der direkten Betrachtung der nationalsozialistischen Bürokratie. Dieser rettende Einfall verhilft meinem Großvater, zu überleben.

Mit 22 Jahren musste ich erst einmal verstehen, was da meiner Familie widerfahren war. Als Kind war es schon schwierig gewesen, zu begreifen, dass meine Großeltern in einem anderen Land, in einem anderen Deutschland lebten. Dass es etwas Besonderes war, wenn wir sie besuchten. Wir waren oft in ihrem gemütlichen Haus in der Tannenbergstraße, das sie – man höre und staune – tatsächlich während des Krieges gebaut hatten, nämlich von 1940 bis 1942. Und das heute noch steht!

Ein weiteres Beispiel dafür, dass Geschichte nicht linear verläuft. Dass Systeme überraschende Nischen freigeben. Dass manchmal Zufall, persönliche Launen, unvorhergesehene Situationen für den Gang der Ereignisse von ebenso großer Bedeutung sind wie historische Gesetzmäßigkeiten. Und dass es auf den einzelnen Menschen – auf jeden einzelnen Menschen – ankommt. Im Positiven wie im Negativen.

Artur logen die Nazis in »Artur Israel« um. Für einmalige Menschen aus Fleisch und Blut, mit Herz und Seele, erfanden sie die Lüge der Rassengesetze. Als ob man Menschen mit Bruchrechnung klassifizieren oder wie bei einem Kochrezept in unterschiedlicher Konzentration der Einzelteile zusammenmischen könnte. (…)

Entstanden aus der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk – eine große Idee, eine starke gemeinschaftliche Kraft mit einem klaren gesellschaftlichen Auftrag. (…)

QUALITÄTSMEDIEN Die Entwicklung in Amerika zeigte deutlich: Überall dort, wo regionale Berichterstattung fehlt – keine Regionalzeitungen, kein regionaler Rundfunk –, wo es keine verlässlichen Berichte und angemessenen Einordnungen ihrer Lebenswelt gibt, fallen Menschen verstärkt Verschwörungsmythen anheim. Die unabhängige Presse – Qualitätsmedien, privat wie öffentlich-rechtlich – wird in der Krise zum Kompass – und bleibt unabdingbar für die Sicherung der Demokratie. (…)

Worüber ich heute Abend aus gegebenem Anlass und besonders an diesem Ort, an dem Tacheles geredet wird, sprechen möchte, ist die weiter steigende Anzahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland. (…) Die Gesetzmäßigkeiten kommen uns bekannt vor. Häufig, wenn eine Gesellschaft in Aufruhr gerät, werden Feinde benannt, Ideologien formuliert, die die Orientierung und Sicherheit versprechen, werden eine erste und eine zweite Klasse ausgemacht und Sündenböcke bestimmt.

Und im Dunst ideologischer Nebelkerzen suchen Schwache noch Schwächere. Hierzulande verspricht Antisemitismus den Tätern einen doppelten »Erfolg«: Denn eine antisemitische Attacke trifft nicht nur die attackierte Minderheit, sondern auch stets die Unterstützenden von Toleranz, »das System«, die sogenannte Elite. Sie trifft und betrifft unsere Gesellschaft – uns! Wie kann es in einem Land wie Deutschland, das historisch verantwortlich für das Ewigkeitsverbrechen des Holocaust ist, nicht gelingen, Antisemitismus nachhaltig zu bekämpfen?

perspektiven Gesellschaften halten dann zusammen, wenn Menschen mit unterschiedlichen Geschichten und Perspektiven miteinander reden, miteinander ringen. Sie kommen dann miteinander aus, wenn sie Gemeinsames und Trennendes anerkennen. Wenn sie an die Wahrheit glauben dürfen.

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat mit seinem wohl bekanntesten Buch Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin die blutigen Spuren nachgezeichnet, die Stalin und Hitler in geradezu diabolischer Einigkeit durch die Länder Ost- und Mitteleuropas, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer gezogen haben.

Mein Großvater überlebte, weil zwei Frauen Verantwortung übernahmen.

Viele Millionen Menschen starben zwischen 1932 und 1945 in diesen Gebieten. Sie wurden umgebracht – oder man ließ sie in Lagern verhungern. Damals besonders betroffen war die Ukraine. 2017 veröffentlichte Snyder dann sein Buch Über die Tyrannei. (…) Kurz gefasst: Wie verhindert man totalitäre Systeme, wie einen Kollaps der Demokratie? Snyder schreibt: »Glaube an die Wahrheit. Die Fakten preiszugeben, heißt, die Freiheit preiszugeben.«

hoffnung Das Happy End von Grete und Artur, meinen Großeltern, war ein großes Glück. Es kam auf die Einzelnen an. Die beiden Frauen, die dem Juden Artur das Leben retteten. Deshalb kann ich heute hier stehen, die Enkelin, in der Synagoge. Das bedeutet mir viel. Das gibt Hoffnung.

Am Tag nach der Pogromnacht 1938 – meine Großeltern hatten am 9. November ihren Hochzeitstag gefeiert – wurde mein Großvater abgeholt. Er überlebte, weil zwei Frauen Verantwortung übernahmen. Es kommt auf jede Einzelne, jeden Einzelnen an. Und was am 9. November in der Synagoge geschah, ist bekannt. So bleibt die Geschichte meiner Großeltern auch eine Geschichte der Hoffnung. Eine Inspiration für unsere Zeit. Es kommt auf den Einzelnen an. Auf Sie. Auf mich. Auf jeden und auf jede. Das ist unsere Verantwortung.

Patricia Schlesinger sprach am 4. Mai als erste Rednerin bei der künftig jährlichen Veranstaltung »Tacheles. Die Görlitzer Rede« im Kulturforum Görlitzer Synagoge.

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