Ekstase und Verzweiflung
Politik. Rausch. Amerika. Ein Jahrhundertleben. Wie das von Lawrence Ferlinghetti, der jüngst 100 Jahre jung wurde. Little Boy, das ist er selbst. Geboren in Yonkers, New York. Sehr früh Halbwaise, Nachfahre von sefardischen Juden. Ihn, das vierte Kind, reichte die Mutter zu unterschiedlichen Familien weiter. Dann Kriegsdienst, Studium in New York und Paris, Umzug nach San Francisco. Dort gründete er die legendäre »City Lights«-Buchhandlung mit, arbeitete dort jahrzehntelang, schrieb Gedichte. All das kommt in diesem Buch ohne Punkt und Komma und mit nur wenigen Absätzen vor, dazu Erotik, Ekstase und Verzweiflung, Weises und Skeptisches, Freunde wie Allen Ginsberg und Jack Kerouac. Kurz: ein Wirbel von Zeiten, Erinnerungen und Dichtung. Um die Beat-Literatur ist es hierzulande leise geworden. Dieses sehr gut übersetzte Wort- und Gedächtnis- und Lebensbilderstrudelbuch, kunstvoller komponiert, als es den ersten Anschein hat, was eine zweite Lektüre offenbart, korrigiert dies. Literarische Avantgarde ist langweilig? Hier nicht. Alexander Kluy
Lawrence Ferlinghetti: »Little Boy«. Schöffling, Frankfurt am Main 2019, 216 S., 22 €
Königliche Strandlektüre
In Wallonisch-Brabant, so vermeldeten es die einschlägigen Blätter, habe die belgische Königsfamilie ihren letztjährigen Sommerurlaub verlebt. Ob sich im royalen Reisegepäck wohl auch eine Ausgabe von Masel tov befand? J. S. Margots autobiografischer Roman über ihre »ungewöhnliche Freundschaft mit einer jüdisch-orthodoxen Familie« gilt laut Verlag als das Lieblingsbuch von Königin Mathilde. Seine Geschichte beginnt im Antwerpen des Jahres 1987: Die 20-jährige Studentin Margot wird von dem wohlhabenden jüdisch-orthodoxen Diamantenhändlerehepaar Schneider als Nachhilfelehrerin für ihre vier Kinder engagiert. Zwei Welten treffen aufeinander. Herrschen anfangs noch profunde Irritationen vor, weichen diese rasch gegenseitiger Faszination – und langjähriger Freundschaft. In Masel tov geht es um Offenheit und Intoleranz, Gutmenschentum und Antisemitismus, Kaschrut und Eruvim, jüdische Witze und heilsames Schweigen – ein Stück leichter bis seichter Lektüre, prächtig geeignet für einen königlichen Strandurlaub. Amir Wechsler
J. S. Margot: »Masel tov. Meine ungewöhnliche Freundschaft mit einer jüdisch-orthodoxen Familie«. Piper, München 2019, 333 S., 15 €
Feministische Buddenbrooks
Dieser Roman ist nichts Geringeres als die jüdisch-emanzipierte Version von Thomas Manns Buddenbrooks. Und man muss sich fragen, warum er erst heute und nicht bereits in den 50er-Jahren, als er erschien, für Aufhorchen sorgte. Die Journalistin Gabriele Tergit lässt auf 900 Seiten zwei Familien ungebremst in die Katastrophen des Zeitalters der Extreme rasen. Von 1878 bis 1942: Preußen, Weimar, Nazis. Mit Akribie beschreibt sie den Alltag einer jüdischen Uhrmacherfamilie aus dem fiktiven Kaff Kraigheim bei Frankfurt, Aufstieg und Fall von Bankern in Berlin und die Geschichte einer Motorenfabrik: Fortschrittsglaube und jüdischer Patriotismus vom Ersten Weltkrieg über den Börsencrash bis zur Enteignung. Im Mittelpunkt: der Wandel des Frauenbildes. Unsittlich verliebte Mädchen, leidenschaftliche Hausfrauen und revolutionäre Künstlerinnen. Am Ende feiert die Emanzipation Erfolge, aber die Jüdischkeit kommt unter die Räder – zunächst im neoliberalen England. Jede Generation muss feststellen: Es bleibt nur wenig von den Idealen und Hoffnungen der Jugend. Am Ende steht die Gretchenfrage: Auswandern nach England oder Eretz Israel? Oder hoffen, dass es unter Hitler doch nicht so schlimm kommen wird? Eine leider unendlich aktuelle Zeitreise. Axel Brüggemann
Gabriele Tergit: »Effingers«. Schöffling, Frankfurt am Main 2019, 904 S., 28 €
Alles für seine Mutter
Am Anfang steht ein Teil eines Songs. Aber nicht etwa irgendeines Songs, sondern ausgerechnet der Refrain von »My Yiddishe Momme«. Das Lied, in dem Jack Yellen die Mutter beschreibt, die für ihr Kind durch Feuer und Wasser gehen würde. Eine Mutter, die es oft zu gut meint und deren Abwesenheit schmerzt. »Wie bitter, wenn sie fehlt«, wie es im Lied heißt. Vielleicht wird man es nicht gleich auf den ersten und – so viel sei vorweggenommen – auch nicht auf den zehnten Blick erkennen, aber auch C. Bernd Suchers Mutter liebte ihre Kinder. Nur zeigen konnte sie es nie. Und wenn, dann vornehmlich durch Strenge, höchste Ansprüche und Härte. Sucher, der Theaterkritiker und Hochschullehrer, der seine berufliche und gesellschaftliche Anerkennung permanent mit der Frage »Was würde ›Mamsi‹ dazu sagen?« zu prüfen scheint, beschreibt in seinem Buch nicht nur die Qualen, die seine Mutter im Konzentrationslager erleiden musste, sondern setzt sich über ihre Geschichte auch mit seiner eigenen Herkunft als Kind eines christlichen Vaters und einer jüdischen Mutter auseinander. Eine leichte Lektüre ist das Buch nicht, aber eine wichtige. Katrin Richter
C. Bernd Sucher: »Mamsi und ich. Die Geschichte einer Befreiung«. Piper, München 2019, 256 S., 20 €
Ein Herz so roh
Ein Lied ist das Leben, es singt und es klingt, / Ein Medley aus Improvisina; / Und Liebe ist etwas, das immer gelingt, / und ich bin der Kaiser von China.« Nein, lieblich waren die Liebes-, Verzweiflungs- und Liebesausbootungsgedichte von Dorothy Parker, geborene Rothschild (1893–1967), nicht, der scharfzüngigen New Yorker Autorin und Kritikerin, die sich auch in Hollywood verdingte. Von bittersüß blieb oft nur das Bittere. Ulrich Blumenbach übertrug ihre Lyrik 2017 ins Deutsche. Nora Gomringer, Lyrikerin und Leiterin der Villa Concordia in Bamberg, und der Musiker Philipp Scholz haben sich nun 20 Gedichte auf Deutsch und auf Englisch anverwandelt. Gomringer gurrt, singt, ist pointiert und hinreißend bissig. Scholz verwendet vieles, von Holzklöppeln bis E-Gitarre, von Halleffekten bis zu Verzerrungen oder Jazz. Eine grandiose Hommage, wie sie kaum brillanter hätte ausfallen können. »Liebe ist ein Griff ins Klo, / Liebe lässt uns leerer, / Einst brach ich ein Herz so roh; / Das wiegt wohl noch schwerer.« Aviv Roth
Gomringer & Scholz: »Peng Peng Parker«. Voland & Quist, Leipzig 2019, 37 Min., 18 €
Das lernt der Orient
Kinder des Koran heißt das neue Buch von Constantin Schreiber, in dem der ARD-Journalist Schulbücher aus muslimischen Ländern unter die Lupe nimmt. Und wie schon sein letztes Buch Inside Islam. Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird ist auch sein aktuelles Werk direkt in die »Spiegel«-Bestsellerliste eingestiegen. Schreiber, Kenner der arabischen Welt, der fließend Arabisch spricht und lange in Beirut und Dubai lebte, kommt in Kinder des Koran zu ernüchternden Erkenntnissen. Die untersuchten Schulbücher vermitteln judenfeindliche, frauenfeindliche und antiwestliche Einstellungen, lehnen zum Teil religiöse Toleranz ab und sprechen von einer Überlegenheit des Islam, betont Schreiber. »Ich bin auf kein Buch gestoßen, das mir positiv aufgefallen wäre«, schreibt der 39-Jährige. Ein palästinensisches Arabisch-Lehrwerk für die zehnte Klasse ist etwa voll von politischen Texten, die gegen Israel hetzen. Von »zionistischen Banden« ist dort die Rede. Der Journalist kommt zu dem Schluss, »dass die jeweiligen Schulbücher auf unheilvolle Art die jeweils problematischen gesellschaftlichen Tendenzen verstärken, die es in den einzelnen Ländern bereits gibt«. Darüber hinaus warnt Schreiber vor den Folgen auch für die deutsche Gesellschaft, wenn Einwanderer aus muslimisch geprägten Ländern die vermittelten Werte mitbrächten. Er schreibt zudem, dass einige Schulbücher vom deutschen Bildungsministerium mitfinanziert wurden. Für seine Aussagen im letzten Buch wurde Schreiber von verschiedenen Seiten Islamfeindlichkeit vorgeworfen. »Ich wurde bedroht, beschimpft, beleidigt«, schreibt er in Kinder des Koran. In einem Interview des »Spiegel« betonte er kürzlich, keine antimuslimische Agenda zu verfolgen. Dennoch steht zu erwarten, dass auch seine neueste Veröffentlichung nicht nur positive Reaktionen hervorrufen wird – was die Wichtigkeit und Dringlichkeit dieses lesenswerten Buches aber erst recht unterstreicht. Michael Althaus
Constantin Schreiber: »Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen«. Econ, Berlin 2019, 304 S., 18 €