Die Dinge beim Namen zu nennen, macht es leichter, über sie zu reden. Ein Credo, das der Politikwissenschaftler Alfred Grosser verinnerlicht hat. Nicht immer hat er sich damit Freunde gemacht. Doch Kritik gehört seit jeher zu seinem Geschäft, daran hat sich bei dem Spezialisten für deutsch-französische Fragen und Europa auch im Alter nichts geändert. Am Samstag wird Grosser 95 Jahre alt.
Am Freitag hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihm zum Geburtstag gratuliert. »Ob als brillanter Analytiker, Historiker oder Publizist – Ihre Stimme, Ihr ›mot juste‹ wird weltweit gehört und geachtet. Darüber hinaus sind Sie ein wichtiger Impulsgeber, wenn es um Fragen zur historischen Aufklärung und zum besseren Verständnis der Konsequenzen staatlichen Handelns geht«, schreibt Steinmeier.
verständigung Die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich sei stets eine der Herzensangelegenheiten Grossers gewesen. »Was Sie am meisten ehrt, ist Ihr ganz eigenes Tun – eben das, was aus Ihrer Sicht die Größe des Menschen ausmacht: Die kritische Distanz zu sich selbst, die Sie stets in den Dienst von Gerechtigkeit und Verständigung gestellt haben«, schreibt der Bundespräsident.
»Es gibt heute Fragen, die wichtiger geworden sind als die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich«, so hatte Grosser selbst im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur das derzeit abgekühlte Verhältnis beider Länder beschrieben. Die deutsch-französischen Beziehungen seien nicht mehr zentral. Grossers Begründung: »Es gibt andere, neue Fragen, die wichtiger geworden sind.« Dazu gehörten die Beziehungen zu den USA und zu China.
Dass das deutsch-französische Verhältnis keine Liebesbeziehung sei, hatte Grosser schon 2013 gesagt. Doch so nüchtern wie diesmal fiel seine Einschätzung selten aus. Seit mehr als 50 Jahren fühlt er dem Tandem Frankreich/Deutschland den Puls. Zwar nimmt der emeritierte Professor des Pariser Instituts für Politikwissenschaft immer seltener an Konferenzen und Debatten teil, das politische Geschehen verfolgt er deshalb aber nicht weniger. Auf dem Tisch in seiner Pariser Wohnung stapeln sich Bücher und Zeitungen. Auf alle Fragen hat er Antworten, auch wenn diese leiser und brüchiger herüberkommen als früher.
Grosser gilt als einer der intellektuellen Wegbereiter des Élysée-Vertrags, der als Meilenstein in der Aussöhnung der einst verfeindeten Länder gilt.
Grosser gilt als einer der intellektuellen Wegbereiter des Élysée-Vertrags, der als Meilenstein in der Aussöhnung der einst verfeindeten Länder gilt. Durch seine publizistische Arbeit hat er an der deutsch-französischen Verständigung mitgewirkt. In zahlreichen Publikationen hat er den Deutschen erklärt, wie die Franzosen ticken – und umgekehrt. Für seine Rolle als Vermittler und Versöhner wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem Großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband sowie dem französischen Großkreuz der Ehrenlegion.
Der Politikwissenschaftler mit jüdischen Wurzeln emigrierte 1933 mit seiner Familie von Frankfurt nach Frankreich. Nur wenige Jahre später nahm er die französische Staatsangehörigkeit an.
hauptrolle Und wie steht es um Europa? Kurz und eindeutig auch hier seine Antwort: »Es gibt nicht sehr viel Europa, aber alle sind dafür.« Einen Seitenhieb verteilt er an Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron wegen dessen Blockade der EU-Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien. Macron sei ein echter Franzose, meint Grosser. Frankreich müsse immer die Hauptrolle spielen, dazu habe Europa schon immer gedient. Macron hatte mit seinem Veto im Oktober 2019 nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel verstimmt.
Doch ein Schwarz-Weiß-Maler war Grosser noch nie. »Es gibt schon viel Gemeinsames in Europa, das aber gar nicht beobachtet wird«, fügt er hinzu. Und mit Blick auf den Brexit der Briten fragt er mit Unverständnis, was Großbritannien denn alleine machen wolle.
Der Publizist hat noch nie ein Blatt vor den Mund genommen, gleich ob es sich um Europa, Deutschland, Frankreich oder Israel handelt.
Der Publizist hat noch nie ein Blatt vor den Mund genommen, gleich ob es sich um Europa, Deutschland, Frankreich oder Israel handelt. In seinem 2009 erschienenen Buch Von Auschwitz nach Jerusalem erklärt er den Deutschen, warum sie kritischer mit Israel umgehen sollten. Seine Kritik an Israels Machtanspruch brachte ihm Vorwürfe des Antisemitismus ein.
atheist »Solange ein palästinensischer Staat unmöglich ist, weil die Siedlungen und die Straßen nur für Israelis sind, solange wird Israel auch nicht in Frieden leben können«, lautet das Argument des studierten Germanisten. Sich selbst bezeichnet er als jüdisch geborenen, mit dem Christentum geistig verbundenen Atheisten.
Was er sich zu seinem 95. Geburtstag wünscht? »Dass die deutschen und französischen Verantwortlichen einsehen, dass ein vereintes Europa mit China und Amerika wetteifern kann, ein uneiniges Europa kann das nicht.«