Schoa-Forschung

Briefe eines Mörders

Bestdokumentierter Prozess der Rechtsgeschichte: Eichmann in Jerusalem Foto: Flash 90

Noch heute trifft man auf Menschen, die nicht glauben, dass Adolf Eichmann vor 50 Jahren in Israel am Galgen starb. Keiner der Hinrichtungsberichte konnte dies verhindern, obwohl jede Bewegung, jedes Wort protokolliert wurde bis zum Letzten: »In einem kurzen Weilchen, meine Herren, sehen wir uns ohnehin alle wieder. Das ist das Los aller Menschen. Gottgläubig war ich im Leben. Gottgläubig sterbe ich.« Die israelische Regierung hatte sich um diese Transparenz bemüht: Unter den 15 Augenzeugen waren vier Journalisten, einer davon aus Deutschland, um »allen Legendenbildungen vorzubeugen«. Aber Rationalität vermag wenig, wenn Verschwörungsverliebte träumen.

Dokumente Das Verfahren des Staates Israel gegen den Organisator der nationalsozialistischen Judenvernichtung ist vermutlich der bestdokumentierte Prozess der Rechtsgeschichte. Wer es möchte, findet alles: Tausende von Protokollseiten des Verhörs und des Prozesses. Sogar die Beweisdokumente kann jeder studieren, säuberlich ediert auf Mikrofiche. Doch nicht nur das. In Archiven lagern unzählige Aufzeichnungen des Gefangenen selbst, darunter auch ein Abschiedsbrief an die Familie.

Eichmann erfuhr am 31. Mai 1962, dass sein Gnadengesuch von Präsident Yitzhak Ben-Zvi abgelehnt worden war, nur zwei Tage nachdem der israelische Oberste Gerichtshof das Urteil vom Dezember 1961 bestätigt hatte. Aber schon für die Berufungsverhandlung brachte die Weltöffentlichkeit kein besonderes Interesse mehr auf.

»Als letzten Wunsch bat ich mir Schreiberlaubnis für diesen Brief, freies Rauchen und eine Flasche Rotwein. (Den Rotwein versprach man mir für etwas später.)«, protokolliert Eichmann, der weiß, dass ihm niemand außer seiner Familie mehr zuhören will. Auch sein Anwalt war abgereist. »Wenn Ihr diesen Brief bekommt, dann wisst Ihr ja, dass alles längst vorbei ist. Ihr alle wart meine große Liebe und mein großes Glück. Seid nicht traurig ...«

Und ja, man ertappt sich dabei, dass er einem leidtut, dieser Mensch, der mit zittriger Hand auf vier Seiten versucht, Frau und Kinder zu trösten und dennoch nicht verbergen kann, dass er damit in erster Linie um seine eigene Haltung kämpft. »Seid ganz beruhigt, ich verstehe anständig zu sterben.«

Weltanschauung Eichmann wäre jedoch nicht Eichmann, wenn er uns nicht noch in den letzten Zeilen das Mitgefühl schwer machen würde. Schreiben – das war nicht nur seine Therapie gegen Angst, sondern vor allem die mächtigste Waffe, die ihm geblieben war. Auch deshalb schrieb er unermüdlich und verfasste seit Jahren eine Geschichtsverdrehung nach der anderen. Eichmann hatte ganz richtig erkannt, dass unser Bild von der Geschichte letztlich auf dem Papier entschieden wird, einem Schlachtfeld, das man mit Begriffen bestellt. Nein, er wolle nicht, dass seine Familie weiter für ihn kämpfe, bittet Eichmann seine Frau, um dann den Satz zu schreiben, der eine ganze Weltanschauung auf den Punkt bringt: »Überlasse die Urteilsbildung ruhig der Geschichte.«

Er schreibt wirklich nicht »Urteilsfindung«, sondern »Urteilsbildung«, denn in der Welt des Adolf Eichmann herrscht das Recht des Stärkeren, und stärker ist, wer die Welt allein nach seinem Willen bildet. Das Todesurteil gegen ihn war eine Niederlage, aber der Krieg gegen die Juden war noch nicht vorbei, es würden wieder andere Zeiten kommen. Dann würden die Sieger ein anderes, vernichtendes Urteil »bilden«, gegen die Juden, gegen die Völkerrechtler und Menschenrechtsvertreter. Und zugunsten von Adolf Eichmann, dem visionären Massenmörder. Diese Hoffnung gab ihm Kraft, so bitter sein persönliches Schicksal jetzt auch sein mochte. »Inzwischen habe ich auch eine Flasche Wein bekommen. Man gab mir die Wahl zwischen süßem Rotwein oder herbem Weißwein. Ich zog nach kurzem Überlegen den Letzteren vor.«

Recht Bei aller Verachtung für einen Unbelehrbaren lehrt der Fall Eichmann uns vor allem eines überdeutlich: dass ein Urteil allein nicht reicht. Es ist nämlich an uns zu beweisen, dass Adolf Eichmann unrecht hatte und dass Recht mehr ist als die Folge eines zufälligen Herrschaftsverhältnisses. Wir müssen zeigen, dass es eine Idee des Rechts gibt, also die Vorstellung, dass Recht als Recht für alle Menschen und zu allen Zeiten gilt, egal ob sie schwach sind oder stark.

Für den Philosophen Immanuel Kant war genau diese Idee »das Heilige, das in der Welt ist«, also das einzig Ewige und Unverwundbare, das die Menschen finden können und für das zu kämpfen sich lohnt. Wir können nicht wissen, ob es uns je gelingt, eine gerechte Welt zu realisieren. Wir wissen nur, dass wir es versuchen müssen, weil wir nur dann auf eine Welt hoffen dürfen, in der niemand einen Adolf Eichmann je freisprechen wird.

»Eben werde ich zur Hinrichtung abgeholt. Es ist der 31.5.62, 5 Min vor 24 h. Pfüat Euch!«, steht auf dem Rand des Abschiedsbriefes. Um 23 Uhr 58 starb Otto Adolf Eichmann nach einem fairen Prozess am Strang, so aufrecht, wie er es keinem seiner Millionen Opfer zugestanden hat – ebenso wenig wie einen Wein und den Abschiedsbrief oder gar Mitleid.

Die Autorin ist Philosophin und Historikerin. 2011 erschien ihr Buch »Eichmann vor Jerusalem – Das unbehelligte Leben eines Massenmörders«.

Weitere Texte und Informationen zum Eichmann-Prozess finden Sie in unserem ausführlichen Dossier zum Thema.

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