Kein Corona-Eskapismus, nirgends. Leider geht es auch in diesem Buch um ein Virus, »ein Virus, das immun ist gegen alle bekannten Antibiotika«, schreibt Tuvia Tenenbom und meint damit den Antisemitismus, der bekanntlich auch weder Grenzen noch Hautfarbe oder Alter kennt.
Dem ist der Theatermann und Autor (Theater in New York, Autor in Deutschland) schon seit Jahren auf den Fersen. Mittlerweile fünf Bücher dokumentieren seine Funde in Deutschland, in Israel, in den USA, in Flüchtlingsunterkünften und nun eben auch in Großbritannien.
Tenenboms spezielle Mischung aus Chuzpe, deutlichen Worten und Suggestivfragen hat es mehrfach in die Bestseller-Listen geschafft. »Never change a winning team«, könnte man das nennen. Oder auch »Antisemitismus-Parade«, schließlich wird hier jeder Verdacht bestätigt, jede Befürchtung übertroffen.
ARMUT Es ist schon lange etwas faul im Staate Großbritannien, dazu muss man nur die Texte des großartigen britischen Autors Howard Jacobson lesen. Tenenbom war vorgewarnt, als er 2018 und 2019 die Inseln erkundete – von Irland ging es nach Schottland, nach England, nach Wales. Eigentlich habe er die hohe britische Schauspielkunst genießen wollen, so der Bühnenmann, doch kam ihm immer wieder das Brexit-Theater dazwischen. Aber auch die Armut der kleinen Leute und eben der Antisemitismus. Denn »der Weg zum Brexit spült viel mehr ans Tageslicht, als allen recht ist«, schreibt Tenenbom.
So kam es, dass der Genussmensch – die 500 Seiten sind mit reichlich Restauranttipps gespickt – Menschen auf der Straße eines schottischen Dorfes als Erstes nach dem Existenzrecht Israels fragt. Oder im House of Commons direkt nach dem Antisemitismus des Chefs der Labour-Partei. Es wird reichlich gestammelt und herumgeeiert, krudes Zeug geredet und kaum die Wahrheit gesagt. Und der Autor nimmt sich wirklich jeden vor, sei es eine Kellnerin oder eine Baronin, ein Priester oder ein atheistischer Student, der damalige Labour-Chef Jeremy Corbyn oder Brexit-Extremist Nigel Farage.
WARNER Tenenbom, selbst leidenschaftlich anti-political-correct und anti-elitär, hat bei seinen Recherchen keinerlei Interesse an Grauschattierungen, was das Lesevergnügen mal erhöht, mal schmälert. Wenn er doch schon weiß, was er hören will, warum fragt er dann? Und auf Dauer kann das »told you so« ermüdend sein. Aber Tenenbom kann auch anders: Plötzlich berührend und empathisch berichtet er von einem erfolgreichen Geschäftsmann und Mitglied des Oberhauses, der immer seinen Pass und Geld in 27 verschiedenen Währungen bei sich trägt, um im Fall der Fälle rechtzeitig das Land verlassen zu können. Oder von einem spärlichen Kiddusch in einer verarmten, überalterten Gemeinde, deren Mitglieder erst auf mehrfache Nachfrage nicht mehr alles rosig sehen.
Man könnte Tenenbom, den Spross einer ultraorthodoxen Familie aus Bnei Brak, der die Gemeinschaft in den 80ern verlassen hat und nach New York gegangen ist, einen »Autor provocateur« nennen, dessen direkte, immer wieder auch naiv-manipulative Art fast an Sacha Baron Cohens »Borat« erinnert. Aber vielleicht reist da eher ein verzweifelter Warner durch die Welt, dem schwant, dass, wenn er so weiterrecherchiert, kaum ein Land übrig bleiben wird, wo Juden sich tatsächlich sicher fühlen dürfen. Doch solange der Mensch lebt, hat er Hoffnung, Mister Tenenbom.
Tuvia Tenenbom: »Allein unter Briten. Eine Entdeckungsreise«. Suhrkamp, Berlin 2020, 497 S., 16,95 €