Pro – Lea Wohl: Das Gendersternchen stellt die Idee der binären Zweigeschlechtlichkeit infrage
Die Argumente für eine gendergerechte Sprache sind mittlerweile allen bekannt, die sich dafür interessieren. Und der Zusammenhang von Sprache und Macht erklärt die Polemik und Häme, die sich über alle Versuche einer diversitätssensiblen Sprache ergießen. Deshalb versuche ich für Sie, liebe Leser*innen, einen anderen Bogen zu spannen.
»Single story« Die nigerianische und feministische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie spricht über die Gefahren einer »single story«: Als sie zum Studieren in die USA kam, war sie damit konfrontiert, dass ihre neue Mitbewohnerin nur eine Geschichte über Afrika kannte, nämlich die von Krieg, Leid und Hunger. Entsprechend war diese Mitbewohnerin schockiert, dass Adichie in der Lage war, einen Herd zu benutzen, und Englisch sprach (Amtssprache in Nigeria).
Doch auch Adichie musste bei einer Reise nach Mexiko feststellen, dass sie einer »single story« aufsaß: Alle Mexikaner*innen wurden in der medialen Berichterstattung der USA zu Migrant*innen, die versuchten, über die Grenze zu kommen. Wir alle kennen eine »single story« über das Judentum oder Israel. Die Gefahr dieser einzelnen, einsamen Geschichten liegt weniger darin, dass sie unwahr wären, sondern dass sie nur einen kleinen Teil der Realität abbilden und alles andere verdecken.
Das Sprechen von Männern und Frauen konstruiert eine binäre zweigeschlechtliche Welt, die vielfach mit klaren Vorstellungen verbunden ist, wie Männer und Frauen sind und zu sein haben. Diesem Bild sollen Menschen entsprechen, oder sie müssen dafür kämpfen, anders sein zu können. Das Sprechen von Männern und Frauen ist also eine »single story«. Und sie behauptet diese Binarität als vollständiges Bild, obwohl es sich nur um einen Ausschnitt aus der Realität handelt. Alle, die nicht in eine der beiden Schubladen passen, tauchen in dieser Story nicht auf. Nebenbei: Schon der Talmud kannte mehr als zwei Gender.
Aufmerksamkeit Das Gendersternchen macht uns auf diese gesellschaftlich konstruierte Zweigeschlechtlichkeit aufmerksam. Es ist also mehr als die inkludierende Ansprache für Frauen, die sich vom männlichen Kollektivbegriff nicht mitangesprochen fühlen. Es ist auch mehr als die Abkürzung der Doppelform (Leser und Leserinnen), um Platz auf einer Seite oder Luft beim Sprechen zu sparen.
Und dieses »Aufmerksammachen« in der Sprache macht Sinn: Denn die Idee einer binären Zweigeschlechtlichkeit ist mit den Idealen von Gleichheit und Freiheit nicht vereinbar. Sie ist vielmehr untrennbar verknüpft mit der Vorstellung von Männern und Frauen als unterscheidbaren und charakterisierbaren Gruppen.
Sprache ist nicht nur ein Symptom des Denkens, sondern wirkt sich auch darauf aus. Sie formt die menschliche Wahrnehmung, und wir benutzen sie jeden Tag. Studien haben gezeigt, wie prägend sich Sprache auf die Vorstellungen von Kindern über die Welt auswirken. Deshalb liegt hier ein sinnvoller Ansatzpunkt – so wir denn eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse überhaupt möchten.
#metoo Es ist die Idee einer binären Zweigeschlechtlichkeit, die die Notwendigkeit gebiert, permanent zu unterscheiden und zu hierarchisieren, indem Männer und Frauen als gegensätzlich gegenübergestellt werden. Und es ist diese Unterscheidung, die Menschen festlegt, einengt und abwertet. Sie bringt Rollenmuster hervor, die Gewalt beinhalten – und in denen die einen häufiger zu Opfern und die anderen häufiger zu Tätern werden. Das wird gerade unter #metoo diskutiert.
Doch genauso, wie mit dubiosem Rückgriff auf Natur und Tierwelt Unterschiede zwischen Männern und Frauen verteidigt werden, wird plötzlich auf semantischem Gebiet gekämpft: Man könne es nicht aussprechen, das Sternchen verschandele die deutsche Sprache. Diese, lingua tertii imperii, möchte man entgegenhalten, wurde bereits durch anderes verhunzt.
Nebenkriegsschauplatz Wer entscheidet eigentlich über die »Reinheit« der deutschen Sprache? Ein bisschen Veränderung kann ihr vielleicht nicht schaden. Meist ist der Verweis auf die bedrohte Schönheit der Sprache nur Nebenkriegsschauplatz. Sich 2018 über Schreibweisen mit Sternchen oder Gendergap zu echauffieren oder lustig zu machen, scheint mir anachronistisch, gibt es doch seit fast 30 Jahren Verordnungen für einen »geschlechtergerechten Sprachgebrauch« in Deutschland.
Doch in einer Zeit, in der mit der AfD eine Partei im Bundestag sitzt, die die Abschaffung des »Genderns« im Programm fordert, müssen wir darüber wohl wieder vermehrt diskutieren. Nicht nur, weil das Sternchen für den Duden vorerst abgelehnt wurde. Eine Diskussion, der sich auch Jüd*innen oder, wenn das besser gefällt, Juden* nicht entziehen sollten – auch wenn es ein Stern ist.
Lea Wohl von Haselberg ist Medienwissenschaftlerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift »Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart«. Sie forscht und schreibt zu deutsch-jüdischen Themen.
Contra – Michael Wuliger: Die semantische Revolution ist eine vorübergehende Modeerscheinung
Nein, ich bin kein Freund von gendergerechter Sprache. Nicht aus ideologischen Gründen. Ich finde die krampfhafte semantische Gleichberechtigung einfach unästhetisch. »Bürgerinnen und Bürger« holpert beim Redefluss und liest sich kompliziert. Von »BürgerInnen«, »Bürger*innen« oder »Bürger_innen« ganz zu schweigen. Das sieht unschön aus und hört sich noch unschöner an.
Aber darum geht es hier ja nicht. Die Frage lautet: »Brauchen wir das Gendersternchen?« Konkret: Wir, also das Judentum. Nur, was ist das Judentum? Gibt es das überhaupt? Eigentlich haben wir unzählige Judentümer: charedische, orthodoxe, konservative, liberale, die Masse der Ungläubigen nicht zu vergessen.
Ritus Das Angenehme daran ist, dass keine dieser Richtungen ihre Auslegung des Judentums den anderen verbindlich vorschreiben kann. Es gibt keinen jüdischen Papst (auch wenn manche israelische Oberrabbiner sich gelegentlich so aufführen). Wem in Berlin zum Beispiel der Ritus in der einen Synagoge zu patriarchalisch ist, findet nicht allzu weit entfernt ein anderes Bethaus, wo es gendergerechter zugeht.
In der Synagoge beispielsweise, in die ich gehe – nach Meinung der dortigen Rabbinerin (!) wahrscheinlich viel zu selten –, werden die »Beterinnen und Beter« begrüßt und im Gottesdienst nicht nur der Herr Abrahams, Isaaks und Jakobs beschworen, sondern auch der unserer Erzmütter Sara, Lea und Rachel. Bestimmt gibt es auch irgendwo schon Gebetskreise mit Gendersternchen: »Schabbat Schalom, liebe Beter (kurze Pause) innen!« Meinetwegen gerne. Das soll jeder Minjan (gibt es eigentlich auch eine weibliche Version des Wortes?) halten, wie er/sie/es lustig ist.
Totalitarismus Die Verfechter*_Innen der geschlechtergerechten Sprache, fürchte ich jedoch, haben es nicht so mit dem Pluralismus. Wie andere Ideolog*_Innen auch, neigen sie zu kulturellem Totalitarismus. Sie wollen uns ihre Sprachregelung aufoktroyieren, mit moralischem, gesellschaftlichem, gegebenenfalls auch politischem Zwang. Ihr Mittel der Wahl ist das Diktat, nicht der Diskurs. Und da ist für mich eine rote Linie überschritten.
Die semantischen Revolutionär*_Innen haben Grundsätzliches im Blick: das Privileg des Männlichen in der Gesellschaft aufzubrechen. Das wird bei unserem Glauben allerdings schwierig. Das Judentum ist eine alte Religion. Wir sprechen im Gottesdienst Gebete, die Tausende von Jahren vor uns frühere Generationen auch schon so gesprochen haben. Religion ist immer traditionsverhaftet. Und die jüdische Tradition ist maskulin geprägt. Das mag man/frau bedauern; es ist aber nun mal so.
Natürlich kann, soll und muss man – siehe oben – die Gebete heute sprachlich anpassen, um den gesellschaftlichen Gegebenheiten Genüge zu tun. Die männlichkeitsfixierte Grundstruktur des Judentums jedoch wird damit nur modifiziert. Um wirklich gendergerecht in der Sprache zu sein, müsste der Glaube selbst gegendert werden. Das wäre dann jedoch nicht mehr das Judentum, wie wir es kennen – egal welcher Richtung –, sondern eine neue Religion. Bei manchen militanten Genderaktivist*_Innen habe ich den vagen Verdacht, dass es genau das ist, was sie wollen.
Tradition Bleiben wir noch einen Moment beim Thema Tradition. Das Angenehme am Judentum ist sein Konservatismus. Es hat sich über die Jahrtausende, wenn, dann stets nur vorsichtig und langsam neuen Entwicklungen angepasst. Im Kern ist es geblieben, was es immer war. Das ist keine reaktionäre Borniertheit. Unsere Rabbiner waren in allen Generationen so weise zu wissen, dass gesellschaftliche Trends kommen und gehen – meist schneller gehen, als sie kommen.
Deshalb hechelt das Judentum nicht dem jeweiligen flüchtigen Zeitgeist hinterher. Auch der derzeitige Genderismus ist nichts weiter als eine aktuelle Mode. In spätestens ein paar Jahrzehnten wird er nur noch als skurrile Fußnote in den Annalen verzeichnet sein, wie veganes Essen und Dreiviertelhosen. Das Judentum aber wird es noch immer geben. Tradition ist aus guten Gründen langlebig.
Um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin ein unbedingter Anhänger der Geschlechtergleichberechtigung auch im Judentum. Ich freue mich über jeden egalitären Minjan, der neu entsteht. Rabbinerinnen begegne ich mit dem gleichen Respekt wie ihren männlichen Kollegen, und dass an der Kotel Frauen mit Torarolle und im Tallit neben und mit Männern beten dürfen, ist für mich selbstverständlich. Doch dafür brauche ich weder Binnen-I noch Gendersternchen oder Unterstriche.
Michael Wuliger ist Journalist und Autor der Kolumne »Wuligers Woche«. Er hat unter anderem das Buch »Der koschere Knigge« veröffentlicht.