Was für ein Gesicht wohl Günter Grass gemacht hätte, wäre er Diane Arbus vor die Kamera gelaufen? Für die Zeitschrift Harper’s Bazaar war die US-Fotografin 1971 in Berlin, der Termin mit Grass kam nicht zustande, sie fotografierte dann Helene Weigel. Streng sieht die über 70-jährige Prinzipalin des Berliner Ensembles auf dem Foto aus und auch ein bisschen verschreckt. Aus einem von unten hervorkriechenden Schwarz richtet sie den Blick nach oben aus dem Bild heraus, fast ängstlich, fragend, ob ihr, die kurz darauf sterben sollte, im Jenseits nicht vielleicht doch die Erzväter vorwerfen würden, dass sie ihr Judentum unter den Scheffel gestellt und stattdessen sich den Klassenkampf auf ihre Fahne geschrieben hatte.
extrem Wie Helene Weigel kam auch Diane Arbus, geborene Nemerov, aus einer bürgerlichen jüdischen Familie. Weigel, Jahrgang 1900, brach mit ihrer Herkunft, wurde Schauspielerin und Kommunistin. Diane Arbus, 23 Jahre später geboren, lockte keine Ideologie. Sie reizten die mannigfachen Erscheinungsformen des Individuellen. Dadurch wurde auch sie, die zunächst für Modezeitschriften gearbeitet hatte, zur Künstlerin: eine der größten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Kamera benutzte sie als Detektor gesellschaftlicher Verhältnisse, mit dem sie herausfand, wie die Welt aussieht und was sie mit dem Menschen macht. Aber auch als Spiegel, als Verfremdungseffekt – und als Waffe. Norman Mailer bemerkte einst, Diane Arbus eine Kamera zu geben, sei, als ob man ihr eine Granate in die Hand drücke.
Wie explosiv ihre Aufnahmen sind, wie durchdringend ihr Blick, zeigt in herrlicher Vielfalt eine Retrospektive im Berliner Martin-Gropius-Bau. Großzügig, anschaulich und wunderbar undidaktisch zusammengestellt von Jeff L. Rosenheim vom Metropolitan Museum New York und Arbus’ Schüler Neil Selkirk. Er darf als einziger posthum Abzüge von ihren Negativen machen. Zweihundert Aufnahmen sind zu sehen. Darunter auch eher unbekannte aus dem Nachlass, die eindrücklich Arbus’ Sujets und Arbeitsweise verdeutlichen.
Sie konfrontieren uns mehr als vierzig Jahre nach ihrem Freitod 1971 mit nur 48 Jahren, mit einem verstörenden, subversiven Blick auf den Menschen. Das Extreme, Fremde, Verbotene und Perverse, das die Tochter aus gutem Hause magisch anzog, behält seine Kraft. Unnachsichtig sind die Fotos. Für Diane Arbus hatte das damit zu tun, »dass man sich nicht drückt vor dem, was Tatsache ist und wie es wirklich aussieht.«
freaks Die Frage nach Wirklichkeit und Normalität beschäftigte Arbus schon als junges Mädchen. Alice im Wunderland war ihr Lieblingsbuch, später faszinierten sie die Erzählungen von Kafka und Borges, von dem sie 1969 ein Porträt schuf, auf dem der argentinische Dichter wie ein mythischer Prophet aussieht. Georges Grosz, bei dessen Schülerin Dorothy Thompson sie Zeichenunterricht nahm, war ihr Lieblingsmaler.
Das merkt man. Als Klassiker der modernen Fotografie sind ihre Bilder direkt und schonungslos, zeigen, formal klassisch, vielfach auf einen schwarzen Hintergrund hin bearbeitet, »hässliche« Porträts von Reichen und Armen, von Prominenten und Normalbürgern. Makel und Versehrtheiten werden sichtbar, das Vieh im Menschen, der Hinterhof des amerikanischen Traums, der Moment, in dem Masken durchsichtig werden.
Die Bilder erzählen von Entfremdung, Isolation und irritierender Sexualität. Arbus selbst hatte Verhältnisse mit Männern wie Frauen und sprach freimütig über ihre Erfahrungen. Sex war für sie die schnellste Möglichkeit, eine Verbindung zu anderen Menschen herzustellen. Dabei war sie Opfer und Jägerin zugleich. Eigentlich eine scheue Person, die mit Minderwertigkeitsgefühlen rang und zeitlebens von Depressionen gequält wurde. Beim Sex und beim Fotografieren ging sie aus sich heraus, dort suchte sie »authentische Erfahrung«.
Ihre Leidenschaft, das Innere von Menschen, das Geheimnis ihres Daseins freizulegen, führte sie ins Reich der »Freaks«. Selbst Exzentrikerin, suchte sie die Lebensräume der Penner und Transvestiten, Kleinwüchsigen und Tätowierten, Nutten und Nudisten auf. Sie fotografierte in Männergefängnissen und Bordellen, Leichenschauhäusern und auf Jahrmärkten. »Ich will das Böse fotografieren«, bekannte sie. Die Angst, die sie dabei empfand, regte sie an.
klassiker In den 60er-Jahren wurde Diane Arbus in den USA berühmt. Das New Yorker Museum of Modern Art stellte in einer bahnbrechenden Ausstellung ihre Werke aus. Einige der Bilder wurden vom Publikum bespuckt. Das Ende der traditionellen Dokumentarfotografie war mit dieser Schau offiziell besiegelt. Moderne Fotografie war subjektiv: Fotograf und Modell kollaborierten, beide offenbarten sich. Diane Arbus war eine der Wegbereiterinnen dieser neuen Ästhetik. Obsessiv hob sie Schranken zwischen privatem und öffentlichem Leben auf, vor und hinter der Kamera.
Ihre 6x6-Schwarz-Weiß-Fotos haben unser Sehen verändert und ästhetische Maßstäbe verschoben. Arbus hat das Spektrum an fotografischen Themen entscheidend erweitert. Aus der Tradition der Straßenfotografie einer Lisette Model kom- mend, von den Menschendarstellungen August Sanders, den Bilderserien Walker Evans’, den brutalen Frontalaufnahmen eines Weegee, hat sie das Feld bereitet für Nan Goldin, Herlinde Koelbl oder Wolfgang Tillmans.
Als 16-Jährige hatte Diane Arbus in einem Aufsatz über Plato geschrieben: »Ich sehe das Göttliche in den gewöhnlichen Dingen«. Nun kann man in Berlin sehen, was die Fotografin sah. Aber Vorsicht, das Göttliche ist nicht ohne Weiteres auszuhalten.
»Diane Arbus«, Martin-Gropius-Bau Berlin, bis 23. September
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