Es ist eine Bestie von Film, eine in ihrer Konsequenz erdrückende Erfahrung. Und all das gerade deshalb, weil der jüdische Regisseur und Drehbuchautor Jonathan Glazer in The Zone of Interest das Grauen ganz bewusst nicht – zumindest nicht explizit – ins Bild holt, sondern an den Rändern, aber vor allem auf der Tonspur, davon erzählt. So macht der Engländer sich das Kino als Imaginationsapparat auf eine ganz besonders radikale Weise zunutze.
Der Film beginnt, nach einer gefühlten Ewigkeit tiefster Schwärze, die von Mica Levis bedrohlich aufsteigender Ouvertüre untermalt wird, in trügerischer Idylle. Die Vögel zwitschern, die Stimmung ist sommerlich, während Rudolf Höß (Christian Friedel) und seine Frau Hedwig (Sandra Hüller) mit den Kindern am Fluss baden. Vom Zuhause aus sieht man dann einen Wachturm und eine lange Mauer mit Stacheldraht. Denn die Familie Höß bewohnt gleich neben den Lagermauern des KZ Auschwitz ein mehrstöckiges Haus samt großem Garten, Gewächshaus und einem kleinen Pool für die Kinder.
Tatsächlich stand das Haus der Familie in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Lager, in dem Höß die um den Jahreswechsel 1941/1942 beginnende Vernichtung der Juden leitete und wo laut Staatlichem Museum Auschwitz-Birkenau schätzungsweise 1,1 Millionen Menschen ermordet wurden, die meisten von ihnen Juden.
Schüsse, Schreie, bellende Hunde, wummernde Maschinen umrahmen gutbürgerliches Glück
Im und rund um das Anwesen herum dekliniert Glazer die von Hannah Arendt geprägte Idee der »Banalität des Bösen« filmisch durch. Während die Tonspur permanent vom Horror der systematischen Tötung im Lager erzählt – Schüsse, Schreie, bellende Hunde, wummernde Maschinen –, lebt die Familie des Lagerkommandanten ihr gutbürgerliches Glück: ein Kindergeburtstag, Spaß im Pool. »Wir haben doch alles, was wir wollen, vor der Haustür«, sagt Hedwig einmal. Sie ist stolz darauf, dass ihr »Rudi« sie »Königin von Auschwitz« nennt, und natürlich auf ihr »Blumenparadies«, das sie der angereisten Mutter präsentiert. Sie habe etwas Wein an die Mauer gepflanzt, damit alles noch weiter zuwachse.
In einigen Momenten manifestieren sich die Vorgänge hinter den Mauern auch im Bildraum, etwa, wenn Hedwig aus dem Lager gebrachte Kleider an die Dienstmädchen verschenkt oder wenn sie selbst vor dem Spiegel steht und einen Pelzmantel anprobiert. Ein Gespräch um die Vorteile eines neuen Krematoriums, das »Dauerbetrieb« möglich mache, klingt, als würde Höß den Kauf einer neuen Mikrowelle in Erwägung ziehen. Gebrochen wird das in kühlen Bildern eingefangene Familienidyll gelegentlich durch surreal wirkende Infrarotaufnahmen, in denen ein Mädchen Essen rund um das Lager versteckt.
Wie kein anderes Genre muss sich der Holocaustfilm komplexe künstlerisch-ethische Fragen stellen: Was ist ein angemessener filmischer Modus, um vom Nazi-Horror zu erzählen? Welche Mittel sind legitim, was darf gezeigt werden? Regisseur Claude Lanzmann steht seit seinem Dokumentarfilm Shoah, in dem er Zeitzeugen zum Holocaust befragte, wie kein Zweiter für eine Ethik des Zeigbaren. Ganz bewusst entschied er sich dagegen, Archivmaterial oder Leichname zu zeigen. Demgegenüber steht mit Steven Spielbergs Schindlers Liste ein Klassiker, dem als fiktionalisierendes Werk neben viel Lob vorgeworfen wurde, er würde den Holocaust trivialisieren.
Glazers Film hat etwas kalkuliert Perfides und Voyeuristisches
Kritisch diskutiert werden muss auch Glazers Film, denn es hat etwas kalkuliert Perfides und Voyeuristisches, wie er den imaginierten Alltag der Täterfamilie mit starren Einstellungen in Totalen und Halbtotalen künstlerisch ein Stück weit ausweidet. Manohla Dargis ging in der »New York Times« sogar so weit, den Film als eine »selbstverherrlichende Kunstfilmübung« zu verunglimpfen – eine Kritik, die etwas Wichtiges benennt und zugleich über das Ziel hinausschießt.
»The Zone of Interest« ist ein schwer zu ertragender Meilenstein im filmischen Umgang mit der Schoa.
Glazer jedenfalls, der den gleichnamigen, kontrovers rezipierten Roman von Martin Amis inhaltlich stark entkernt hat, ist sich seiner Mittel sehr bewusst. Und auch, wenn sein Werk ein fiktives ist: Weder nutzt er die filmischen Mittel zur popkulturellen Dramatisierung noch gewährt er Einblicke ins Lager. Der Regisseur macht uns fühlend durch die Abstraktion des Grauens, durch eine Mischung aus unfassbar Alltäglichem an den Mauern des Konzentrations- und Vernichtungslagers und dem, was, historisch überliefert und auditiv evoziert, in unserem Kopf passiert.
The Zone of Interest ist ein schwer zu ertragender Meilenstein im filmischen Umgang mit dem Holocaust. In Cannes wurde der Film mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet, bei den anstehenden Oscarverleihungen ist er in fünf Kategorien, unter anderem als bester Film, nominiert. Auch wenn die Hauptdarsteller Christian Friedel und Sandra Hüller nicht zu den Nominierten gehören, tragen sie den Film mit ihrem leidenschaftslosen Spiel.
Hüller ist aktuell die international gefragteste deutsche Schauspielerin. Bei den Oscars darf sie auf eine Goldstatue für ihre Hauptrolle in Justine Triets in Cannes ausgezeichnetem Justizdrama Anatomie eines Falls hoffen. Ihre Hedwig in The Zone of Interest ist narzisstisch und rücksichtslos. In ihr manifestiert sich die Brutalität des Wegsehens in diesem Film gegen das Vergessen, der nicht historisch angestaubt, sondern erbarmungslos gegenwärtig ist.
»The Zone of Interest« läuft ab dem 29. Februar im Kino.